Die Aleviten im Wandel der modernen Geschichte

Hans-Lukas Kieser

Nach einer historiographischen Vorbemerkung werde ich mich einem Längsschnitt durch die moderne, vor allem ostalevitische Geschichte widmen. Ich gehe von der Unterscheidung zwischen West- und Ostalevitum aus, die zwar zentrale alevitische Elemente teilen, aber seit dem 16. Jahrhundert organisatorisch getrennt sind. Zum Schluss werde ich einige Gedanken zur Neubelebung des Alevitums äussern. Die Darstellungen im Handout (siehe Anhang) dienen einer knappen begrifflichen und zeitlichen Orientierung, für die im Vortrag die Zeit fehlt.

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„Verständnislose Auswüchse des Militarismus“

Wolfgang Gust

„Sie bietet sich ja direkt an!!!“, schrieb ein erstaunter Kaiser Wilhelm II an das Telegramm seines Konstantinopler Botschafters Hans Freiherr von Wangenheim. „Sie“, das war die Türkei, die um ein Bündnis mit Deutschland bettelte. Der Kaiser befahl, Wangenheim „soll den Türken sich in Bezug auf 3bund [Dreibund] unbedingt klar entgegenkommend äußern und ihre Wünsche entgegennehmen“. Denn: „Wir dürfen hier unter gar keinen Umständen abweisen.“[1] Das war kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Türkei als Kriegspartner strebten die deutschen Politiker gar nicht an. Noch am 13. Mai 1914 schrieb der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Gottlieb von Jagow seinem Botschafter, er glaube nicht, „daß die Türkei je wieder aktions- und bündnisfähig werden kann.“[2] „Wegen ihrer schlechten Armeeverhältnisse“, erläuterte er kurz darauf, „könne die Türkei für die nächsten Jahre nur als passiver Faktor angesehen werden. Zu einer aggressiven Haltung gegen Rußland wäre sie außer Stande“.[3] Dem stimmte Wangenheim zu: „Die Türkei ist zweifellos heute noch vollkommen bündnisunfähig, sie würde ihren Verbündeten nur Lasten auferlegen, ohne ihnen die geringsten Vorteile bieten zu können.“[4]

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Kurds Challenge Turkish Nation-State

 Ayşe Günaysu

On Dec. 20, 2010, Turkish members of parliament, including the ultra-nationalist MHP, Islamist AKP, nationalist CHP, and others, were listening to the tall woman addressing the session during the budgetary discussions for the Ministry of Tourism and Culture. “Rafael Lemkin says genocide is not only about the extermination of the representatives of a nation but also annihilation of its cultural and national values,” she was saying. “Today, of the 913 Armenian monuments remaining after 1923, 464 have been totally destroyed, 252 left to a state of dilapidation, and 197 in urgent need of restoration. Many of the Armenian religious buildings are being used as stables or storehouses, and many of the Armenian churches have been turned into mosques. Armenians in 1915 were driven out of their own homeland. Suffering, exile, and destitution all combined into Armenian people’s painful outcry.” She went on to quote Armenian singer Aram Tigran’s words: “A storm blew away our nest, leaving us orphans, exiled, longing for our nest even if it is made of stone.” She concluded: “Turkish governments’ refusal of Aram Tigran’s last wish to be buried in Diyarbakir is proof that the punishment imposed on Armenians does not end even after their death.”

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Der NATO-Putsch

Nick Brauns

Geschichte. Vor 30 Jahren ergriff das Militär die Macht in der Türkei. Das nordatlantische Bündnis, besonders die USA und Deutschland, sichert den Staatsstreich zu Beginn der ­neoliberalen Ära ab

Am Morgen des 12. September 1980 wurden die Menschen in der Türkei mit der über Rundfunk verbreiteten Nachricht geweckt, daß »die Armee für das Wohl und die Unteilbarkeit des Landes die Macht übernommen« habe. Dieser dritte Militärputsch in der Geschichte der modernen Türkei sollte die türkische Gesellschaft bis heute fast ebenso einschneidend prägen wie die Gründung der Republik Türkei aus den Trümmern des Osmanischen Reichs im Jahr 1923.

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“Eine tatsächlich Öffnung des türkischen Staates steht noch aus”

Wolfgang Gust

Eine deutliche Mehrheit der Türken entschied sich im September 2010 für eine gründliche Revision der Verfassung. Wenn nicht alles täuscht, wird der Strafparagraph 301, nach dem „Personen, die das Türkentum, die Republik oder die Große Nationalversammlung offen erniedrigen“, bis zu drei Jahren Gefängnis verurteilt werden können, diese Revision zumindest in seiner derzeitigen Form nicht überstehen. Ursprünglich war die Erwähnung des Völkermords an den Armeniern expressis verbis im Gesetzestext als Straftatbestand verankert, wurde dann aber mit Rücksicht auf die Verhandlungen mit der Europäischen Union über einen Beitritt wieder gestrichen.

Der Völkermord an den Armeniern ist trotzdem noch immer das größte Tabu der offiziellen Türkei. Die Geschichte des Umgangs mit diesem politischen Reizthema in den letzten Jahrzehnten und belegt mit Beiträgen der bedeutendsten türkischen Tageszeitungen, ist das Thema eines Sachbuchs, das alle wissenschaftlichen Anforderungen erfüllt und sich dennoch wie ein Krimi liest: Seyhan Bayraktars als Buch erschienene Dissertation „Politik und Erinnerung. Der Diskurs über den Armeniermord in der Türkei zwischen Nationalismus und Europäisierung“.

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Patriotismus in der Diaspora: Fragen, die wir uns stellen müssen

Arthur Manukian

Unser Leben in der Fremde

Wir Armenier sind leicht zu beeindrucken. Recht leicht, wenn wir einen Teil unseres Lebens in der Diaspora, in der Zerstreuung verbringen. Noch leichter, wenn wir unser ganzes Leben fern der armenischen Heimat oder von dem, was uns davon noch geblieben ist, verleben. Armenien bleibt stets in der Ferne, und wir kennen es kaum. Und wir lernen das Land auch kaum kennen: wenn das Schicksal uns einmal in die kleine armenische Republik mitsamt Arzach (Berg Karabach) verschlägt, verbringen wir unsere Zeit damit, die alten Kirchen und Klöster zu bewundern.

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Aus der Verantwortung für den Genozid geschlichen – Das Auswärtige Amt weicht Parlamentarischen Anfragen schlicht aus

Wolfgang Gust

Vielleicht lag es daran, daß die Linkspartei es war, die in einer Kleinen Anfrage nach dem Völkermord an den Armeniern 1915/16 fragte. Die Antworten des Auswärtigen Amt waren jedenfalls noch bedeutungsloser als die des kaiserlichen AA-Staatsekretärs im Ersten Weltkrieg, Friedrich Zimmermann, gegenüber den damaligen Reichstagsabgeordneten mitten in der strengsten Zensur, die Deutschland je hatte. Mehr noch: Fast ein Jahrhundert Forschung über dieses Thema ist im deutschen Außenamt ganz offensichtlich noch nicht angekommen, jedenfalls nicht bei ihren hohen FDP-Vertretern.

Wie ist es sonst zu erklären, daß der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Dr. Wolf-Ruthart Born – wie vorher schon die Staatsministerin Cornelia Pieper – sich außerstande sieht, den Völkermord an den Armeniern anhand des umfangreichen Materials des Politischen Archiv seines eigenen Amtes und nach den Kriterien der UN-Völkermordkonvention zu bewerten. Diese Konvention sei für die Bundesrepublik erst am 22. Februar 1955 in Kraft getreten, weicht er aus, und könne deshalb nicht rückwirkend angewendet werden. Das gilt für die Strafbarkeit, aber doch nicht für die Frage, ob das, was 1915/16 mit den Armeniern in der Türkei geschah, nach den UN-Kriterien ein Völkermord war oder nicht. Nach diesen Kriterien seien die Ereignisse von 1915/16 ein Genozid, hatte der türkische Historiker Halil Berktay vor einigen Wochen in Hamburg klargestellt – und er riskiert dafür eine Haftstrafe, denn in der Türkei ist schon die Nennung des Wortes „Genozid“ für das was 1915/16 den Armeniern angetan wurde, strafbewehrt. Der türkische Professor zeigte Mut, der deutsche Staatssekretär, dem keine Konsequenzen drohen, kniff.

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Eine gute Politik der kleinen Schritte und leisen Töne

Wolfgang Gust

Wer zu den Pionieren wichtiger Vorhaben wie der Demokratisierung eines in dieser Hinsicht rückständigen Landes zählt und dafür Tabus brechen muß, der gerät leicht zwischen die Fronten. So geschah es dem türkischen Professor Halil Berktay, der an der renommierten Istanbuler Sabanci-Universität Geschichte lehrt und einer der ersten Intellektuellen seines Landes war, der den Völkermord an den Armeniern 1915/16 in der Türkei thematisierte, den die Regierung noch immer leugnet.

Am 13. Mai 2010 hatte der Historiker in einer der wenigen liberalen türkischen Tageszeitungen – Taraf – auf die Frage eines Doktoranden, ob in der Türkei ein Historiker frei arbeiten könne oder nicht geantwortet: ja und nein. Die Freiheit in seinem Lande sei so halbgar wie die Demokratie, die offizielle Ideologie der Genozidleugnung hingegen bestens etabliert. Das türkische Unterrichtssystem sei eher preußisch organisiert, auf allen Ebenen herrsche in größtem Maße Gehorsam und Konformismus. Da sei kein Platz für Intelligenz, Ehrlichkeit und Klarheit bei den Studenten und jungen Universitätsabsolventen. Man lehre nicht, sondern formiere. Der Geist würde erschlagen und der Zement für all das sei der Nationalismus.

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Die Obama Regierung muss einen neuen Weg in Bezug auf die Türkei und den Völkermord an den Armeniern einschlagen

Taner Akçam

Was ist der Unterschied zwischen der Obama- und der Busch-Regierung? Nichts, so scheint es, wenn man die Geschichte und die Anerkennung historischer Missetaten anschaut. In beiden Fällen ist es dieselbe alte Leier.

Das Weiße Haus scheint an der Ablehnung des Beschlusses 252 festzuhalten, welcher aber vom Gremium des Auswärtigen Amtes in der letzten Woche (4. März) genehmigt wurde; ein ungewöhnlicher Schritt in der langen Geschichte der gescheiterten Beschlüsse in der Anerkennung des Armenischen Völkermordes. Nach Parlamentarischen Anhörungen, Resolutionen in Unter-Ausschüssen, kühnen Wahlkampfversprechen und unter der Hand gegebenen Zusicherungen kommt immer dasselbe heraus: sobald die Türkei die Muskeln spielen lässt und öffentlich droht fühlen sich die Amerikaner in ihren Interessen eingeschüchtert. Kongressabgeordnete kündigen ihren Rücktritt an, nicht, weil sie nicht glauben, dass die Armenier Opfer des Völkermordes waren, sondern weil ein zu großes Interesse am Mittleren Osten besteht, das sonst in Gefahr gerät.

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Open Letter to Prime Minister Recep Tayyip Erdoğan and Vice-Prime Minister Bülent Arınç

Taner Akçam

There is something I have difficulty understanding. You, who have put an end to ninety-five years of the “there are no Kurds, they’re just Turks who wander around the mountains” lying policies by the state; who have removed the military’s guardianship over politics, the same military that since the beginning of this Republic has decided who lived and who died and that initiated coups at the drop of a hat; how is it that you who have made such important inroads into this democracy insist on continuing the ninety-five years of denialist policies when it comes to the subject of 1915?

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Rede von Wolfgang Gust auf der Gedenkfeier in der Paulskirche am 24. April 2009

Euer Eminenz, Exzellenzen, Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe armenische Freunde.

Ich möchte Ihnen sehr herzlich für die Einladung danken, gerade an diesem Ort zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Der 24. April ist für Sie, die Armenier und Deutsch-Armenier unter Ihnen, der wohl schmerzhafteste Tag in der Geschichte Ihres Volkes, denn am 24. April 1915 wurde die armenische Elite im damaligen Osmanischen Reichs ausgelöscht. Dieser Tag ist heute ein Symbol für den ersten Völkermord auf europäischem Boden in der Neuzeit. Wir gedenken dieses furchtbaren Ereignisses hier in der Frankfurter Paulskirche, einem symbolträchtigen Ort der deutschen Geschichte. Denn hier begann und endete der einzige Versuch des deutschen Volkes, aus eigener Kraft eine moderne Demokratie aufzubauen und Freiheitsrechte für alle Bürger zu garantieren.

Das historische Scheitern der deutschen Demokraten in den Jahren 1848 bis 1851 und die Vernichtung des armenischen Volkes in der Türkei 1915 und 1916 stehen in einem direkten Zusammenhang: Weder mit einem Bündnispartner der Entente noch mit einem Deutschland, wie es 1848 geplant war und wir es heute haben, hätte der Völkermord an den Armeniern stattfinden können. Und ohne potenten Bündnispartner wäre das Osmanische Reich mit diesem barbarischen Schritt höchste Gefahr gelaufen, annektiert und aufgeteilt zu werden. Die Pläne dafür lagen in den Schubläden der Großmächte. Nur mit dem autoritären deutschen Kaiserreich als militärischem Garanten konnte das jungtürkische Regime im ersten Weltkrieg den Genozid wagen.

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