„Verständnislose Auswüchse des Militarismus“

Wolfgang Gust

„Sie bietet sich ja direkt an!!!“, schrieb ein erstaunter Kaiser Wilhelm II an das Telegramm seines Konstantinopler Botschafters Hans Freiherr von Wangenheim. „Sie“, das war die Türkei, die um ein Bündnis mit Deutschland bettelte. Der Kaiser befahl, Wangenheim „soll den Türken sich in Bezug auf 3bund [Dreibund] unbedingt klar entgegenkommend äußern und ihre Wünsche entgegennehmen“. Denn: „Wir dürfen hier unter gar keinen Umständen abweisen.“[1] Das war kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Türkei als Kriegspartner strebten die deutschen Politiker gar nicht an. Noch am 13. Mai 1914 schrieb der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Gottlieb von Jagow seinem Botschafter, er glaube nicht, „daß die Türkei je wieder aktions- und bündnisfähig werden kann.“[2] „Wegen ihrer schlechten Armeeverhältnisse“, erläuterte er kurz darauf, „könne die Türkei für die nächsten Jahre nur als passiver Faktor angesehen werden. Zu einer aggressiven Haltung gegen Rußland wäre sie außer Stande“.[3] Dem stimmte Wangenheim zu: „Die Türkei ist zweifellos heute noch vollkommen bündnisunfähig, sie würde ihren Verbündeten nur Lasten auferlegen, ohne ihnen die geringsten Vorteile bieten zu können.“[4]

Der türkische Kriegsminister Enver Pascha aber war bereit, für ein Bündnis auf fast alle deutschen Bedingungen einzugehen. Die Türkei suche Schutz vor einem Angriff von außen, hatte er Wangenheim geschrieben, um „in Ruhe und Gründlichkeit im Innern reformieren“ zu können.[5] Was damit gemeint war, erfuhren die Deutschen im Juni 1915 von Innenminister Talaat. Die türkische Regierung wolle„den Weltkrieg dazu benutze um mit ihren innern Feinden – den einheimischen Christen aller Konfessionen – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des Auslandes gestört zu werden.“[6]

Wangenheim hätte das ahnen können, denn Großwesir Said Halim hatte schon vor dem Krieg von der „gänzlichen Entfernung der griechischen Bevölkerung von der kleinasiatischen Küste“ gesprochen[7]. Am 5. März 1915 verkündete er dann stolz, daß „das kleinasiatische Litoral seine griechische Bevölkerung im wesentlichen verloren habe“[8].

Griechen und Armenier waren die mit Abstand wichtigste christliche Minderheit im Osmanischen Reich. Doch Minderheitenschutz hatte im kaiserlichen Deutschland keinen Stellenwert, aus Frankreich und Belgien waren Zehntausende von Zivilisten deportiert worden. Und auch der Begriff „Menschenrechte“ galt als Perversion der französischen Revolution. Obenan stand für die Reichsspitze der Kampf gegen die britische Vorherrschaft, deren Juwel die Kronkolonie Indien war. Der von den Briten beherrschte Suezkanal sollte erobert und damit der Seeweg nach Indien blockiert werden. Und die Revolutionierung der Muslime Indiens und Nordafrikas sollte das britische Weltreich von innen zerstören. „Expedition gegen Egypten und antienglische Bewegung des Islams bleibt für Endziel des Krieges Hauptsache“, hatte Kanzler Bethmann Hollweg im September 1914 verfügt.[9] Die russische Mobilmachung rückte dann das Zarenreich in den Vordergrund – und die deutschen Militärs.

Drei Tage vor Abschluß des Bündnisvertrags hatte Bethmann Holweg noch von Wangenheim wissen wollen, „ob Türkei im jetzigen Kriege auch nennenswerte Aktionen gegen Russland unternehmen kann und wird“, denn sonst „würde Bündnis selbstverständlich wertlos sein und wäre nicht zu zeichnen“.[10] Noch am gleichen Tage antwortete Wangenheim, der Leiter der deutschen Militärmission in der Türkei, General Otto Liman von Sanders, beginne „zu zweifeln, daß die Türkei sich für Deutschland erklärt.“ Nun warnte auch Wangenheim: „Wenn wir mit der Türkei abschließen wollen, so ist es höchste Zeit. Wir können sonst 300000 Türken gegen uns statt mit uns haben.“[11] Dem stimmte Jagow zu, „falls General Liman überzeugt ist, daß Türkei auch jetzt schon für uns im Kriegsfall mit Rußland aktiv und wirkungsvoll eingreifen wird.“[12] Der bestätigte gute „Absichten“ der Türken [13] und am nächsten Tag unterzeichnete Wangenheim den geheimen Bündnisvertrag. Aus dem Bittsteller Enver war innerhalb kürzester Zeit ein wichtiger Mitspieler geworden – und gleichgesinnte deutscher Offiziere assistierten ihm dabei.

Auch einer von Enver geforderten längeren Vertragsdauer hatte Wangenheim zugestimmt mit dem seltsamen Argument, dies sei „angesichts der Handhabung des Cypernvertrags durch England nicht allzu bedenklich“. Wunschvorstellungen ersetzte die Realität, denn zuversichtlich hatte Wangenheim verkündet: „Bezüglich der Verteidigung Armeniens würden wir Bundesgenosse Englands werden.“[14] Er wird geschluckt haben, als sein Chef ihm anderntags mitteilte, daß „mit Englands Eingreifen gegen uns gerechnet werden muß.“[15]

Kaum hatten Enver & Co den Bündnisvertrag unter Dach und Fach, schoben sie weitere Forderungen nach. Der Großwesir Said Halim hatte Wangenheim nachts um ein Uhr zu sich gerufen und um einige Zusicherungen gebeten, um „die Vertretung seiner Beschlüsse vor Parlament und öffentlicher Meinung zu erleichtern“. Das Reich solle „seine Hilfe bei der Abschaffung der Kapitulationen“ geben, keinen Frieden schließen, ohne daß „die von seinen Gegnern während des Krieges etwa besetzen türkischen Gebiete wieder geräumt werden“ und „der Türkei eine kleine Grenzberichtigung an der Ostgrenze verschafft, die sie in direktem Kontakt mit den Muselmanen in Rußland bringt“. Wangenheim stimmte zu mit der seltsamen Ausrede, die türkischen Forderungen seien „für die Galerie bestimmt“ und fänden nur dann Anwendung, „wenn wir mit absoluter Beherrschung europäischer Lage siegreich aus dem Kampf hervorgehen.“ Obgleich die Reichsleitung zu Kriegsbeginn davon überzeugt war, stimmte sie zu.[16]

Mit der für die Türken wichtigen Abschaffung der Kapitulationen bekam es Wangenheim noch zu Lebzeiten zu tun. Als die Ententemächte im September 1914 der Türkei im Falle einer militärischen Neutralität deren Abschaffung versprachen, nannte er diesen Schritt „verbrecherisch“.[17] Die Suppe mit der Grenzberichtigung im Osten brauchte er nicht mehr auszulöffeln, denn er war lange tot, als Enver und der inzwischen zum Großwesir aufgestiegene Talaat im Sommer 1918 dem wegen des unaufhaltsamen Vormarsches der Türken im kaukasischen Armenien besorgten deutschen Botschafter Johann Heinrich Graf von Bernstorff Wangenheims Brief vom 6. August 1914 vorhielten, den der nie gesehen hatte. Er fand ihn schließlich in seinen Akten und war dann an Wangenheims Zusagen gebunden.[18]

Für Deutschland war das Zugeständnis in Sachen Grenzberichtigung weit hinten in der Türkei eine Randnotiz. Für die Armenier aber ging es um Leben und Tod. Der Brief belegt bereist im August 1914 das offizielle türkische Streben nach einem turanischen Großreich. Anfang 1916, also noch während des Völkermords, soll Enver seinem deutschen Armeeführer Kress von Kressenstein anvertraut haben, den ganzen Kaukasus erobern zu wollen, was auch das Ende der Russisch-Armenier bedeutet hätte – und damit das Ende aller Armenier in ihren Siedlungsgebieten.[19]

Die Vorherrschaft militärischen Denkens einte Türken und Deutsche. Weitaus die meisten Berichte und Meldungen über die Türkei im Ersten Weltkrieg, die vom Auswärtigen Amt – der größten und bestinformierten deutschen Behörde – zu der im Großen Hauptquartier versammelten Reichsspitze gingen, waren militärischer Natur. Im Schicksalsjahr 1915 betrafen nur zwei der Akten die Armenier. Eine verwies darauf, daß „armenische Banden“ gegen Bezahlung bereit seien „zur Zerstörung Baikal- oder Samarabrücke“, nicht ohne den pikanten Zusatz, wie „von jungtürkischem Comité empfohlen“.[20] Über den Völkermord berichtete das Auswärtige Amt auf dieser Schiene in keinem Bericht.

Diese Nichtbeachtung der Armenier durch deutsche Spitzen-Diplomaten hatte tiefere Ursachen, die sich schon bei früheren Pogromen gezeigt hatten. Der große alte Mann der deutschen Diplomatie in Konstantinopel, Botschafter Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein, schrieb 1908 in einem Bericht nach dem Sturz des Sultans durch die Jungtürken: „Der dunkelste Punkt der gegenwärtigen Lage scheint mir das Einströmen fremder, höchst zweifelhafter Elemente in dieses Land zu sein. Am gefährlichsten sind die Armenier. Viele Tausende derselben haben nach den bekannten Ereignissen der letzten Jahrzehnte die Türkei verlassen. Sie sind meist nach Amerika gegangen. Von dort kehren sie jetzt zurück, viele mit Geld, alle mit einem glühenden Hasse gegen den Sultan. Die Armenier sind die zentrifugalen Kräfte des Landes. Die Gründung eines armenischen Königreiches oder doch einer Autonomie spukt in ihren Köpfen.“[21]

Es war kein Zufall, daß die Armenier des Osmanischen Reichs sich nach England, Frankreich und vor allem Amerika hingezogen fühlten. Jahrzehntelang hatten amerikanische Missionare in der Türkei hervorragende Schulen und Colleges aufgebaut, und ihre Hauptklientel waren stets Armenier. Diese Missionare verstanden sich in erster Linie als Lehrer, die ihren Schülern die Werte der amerikanischen Freiheitskriege und der Französischen Revolution beibrachten – ein Horror für das wilhelminische Deutschland, das die westliche Zivilisation ablehnte, westliche Demokratievorstellungen inklusive.

Über die Verfassung des „Grand Conseil de la Nation“, des großen Volksrats der Armenier in Konstantinopel, schrieb der Armenienspezialist in der deutschen Botschaft, Johannes Mordtmann, sie entspräche „dem ultrademokratischen Geiste, der von jeher unter den gregorianischen Armeniern geherrscht hatte“. „Ultrademokratisch“ war im deutschen Kaiserreich ein Schimpfwort, denn die Armenier, so Mordtmann, hatten „in Paris die Ideen der ’Großen Revolution’ vom peuple souverain eingesogen“.[22]

Den westlichen Werten setzten die Deutschen ihre vermeintlichen Kulturwerte gegenüber. „Händler und Helden“, war der Titel des berühmtesten Buches der Kriegszeit, verfaßt vom deutschen Soziologen Werner Sombart. In ihm stand der deutschen Heldenkultur mit ihren Werten „Ehrlichkeit, Gemütlichkeit und Selbstlosigkeit“ – so der vielgelesene Paul Rohrbach – die angeblich „hohle englische Krämerkultur“ gegenüber. Sie war in deutschen Augen typisch nicht nur für Engländer, Amerikaner und Franzosen, sondern auch für Schweizer, Niederländer und Dänen – und Armenier.

In Kontrastierung zu den Ideen der Französischen Revolution von 1789 hatte der Staatswissenschaftler Johann Plenge die deutschen „Ideen von 1914“ propagiert („Wir sind das vorbildliche Volk. Unsere Ideen werden die Lebensziele der Menschheit bestimmen.“)[23] Diese Ideen hatten einen frühen Gipfel in dem Aufruf „An die Kulturwelt“ gefunden, der von 93 prominenten deutschen Gelehrten unterzeichnet wurde. „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden verschwunden. Zu ihrem Schutze ist er aus ihr hervorgegangen“, war eine der Kernthesen dieses Aufrufs.[24]

Dieser übersteigerte Militarismus beherrschte nicht nur die deutsche Wirklichkeit im Kaiserreich, sondern auch in der Türkei. Ihre Träger dort waren einmal die Mitglieder der deutschen Militärmission, die nominell unter dem Kommando Liman von Sanders standen. Noch nie in der Geschichte des Osmanischen Reichs war die Armee eines fremden Landes so sehr mit den türkischen Streitkräften verzahnt wie im Ersten Weltkrieg, wobei sich sehr bald eine Gruppe deutscher Offiziere um Enver bildete, die sehr oft andere Ziele verfolgte als Liman, und zusammen mit dem Kriegsminister Macht ausübte.

Den zweiten militärischen Strang gab es in der deutschen Botschaft. Von Anfang an spielte der Marineattaché Hans Humann eine entscheidende Rolle, zumal er mit Enver persönlich befreundet war. Manchmal schickte ihn Wangenheim in delikaten Fragen zum türkischen Kriegsherrn. Seit Juli 1915 kam der bayrische Oberst Otto von Lossow hinzu, erst als Militärattaché, dann als Militärbevollmächtigter. „Beide stehen sehr intim zu Enver“, hielt AA-Nahostexperte Otto Göppert in einer Notiz fest.[25] Beide drängten immer mehr in den Vordergrund. Schließlich agierten sie parallel zum Botschafter und fungierten selbst bei einem Abkommen über Religionsfragen als amtliche Zeugen.

Über die Methoden Lossow berichtete der Botschafter Paul Graf Wolff-Metternich. Im Sommer 1916 hatte er einen ausführlichen Lagebericht nach Berlin übermittelt. Daraufhin bat der oberste deutsche Heereschef von Falkenhayn seinen ihm direkt untergebenen Offizier um eine Stellungsnahme. Lossow verschaffte sich Einblick in das Metternich-Telegramm und gab Enver in einem zweistündigen Gespräch sämtliche Details der vertraulichen Einschätzung des Botschafters preis, was die Türken alarmierte. Über Lossows Vertrauensbruch entsetzt, gab AA-Chef Jagow Anweisungen, wie die Krise einzudämmen sei. Metternichs Antwort: „Der Militärbevollmächtigte benutzte die ihm anbefohlene offene Aussprache dazu, die heikelsten Fragen der Politik anzuschneiden, denen auszuweichen es bisher gelungen war. Wenn diesen verständnislosen Auswüchsen des Militarismus nicht gesteuert wird, so müssen wir diesen Krieg politisch verlieren. Wenn der Militärbevollmächtigte nicht einigermaßen in die Schranken seines Berufes zurückgewiesen wird, so kann ich die Verantwortung für die hier zu befolgende Politik nicht weiter tragen. Es wäre dann ein Feldwebel, der Order pariert, besser am Platz als ein Kaiserlicher Botschafter.[26]

Doch nicht der Oberst wurde in die Schranken gewiesen, sondern Wolff-Metternich, den das Auswärtige Amt abberief. Lossow handelte 1917 praktisch im Alleingang eine Militärkonvention aus – mit politisch so brisantem Resultat, daß Botschafter Kühlmann urteilte: „Zeichnen die verantwortlichen türkischen Staatsmänner diese Konvention, so haben alle Erörterungen über die zukünftige Gestaltung der deutsch-türkischen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen kaum mehr als akademischen Wert: wir sind mit der Türkei und die Türkei mit uns verheiratet.“[27] Zum Kriegsende hin waren die deutschen Diplomaten im politischen Geschäft nur noch Randfiguren.

Die deutschen militärischen Spitzen bestimmten nicht nur die deutsche Politik, sie trugen auch die Vernichtungsabsicht der jungtürkischen Ultras mit. Der eklatanteste Fall ist der des preußischen Major Böttrich, der Chef des Verkehrswesens im türkischen Großen Hauptquartier war. In dieser Funktion unterstanden ihm auch die zumeist armenischen Arbeiter und Angestellten der Bagdadbahn, die Böttrich gegen alle Widerstände vor allem der Bagdadbahnbaugesellschaft deportieren ließ.[28] Der preußische Major unterschrieb persönlich Deportationsbefehle, was den stellvertretenden Direktor der Bagdadbahn zu dem Kommentar nötigte: „Unsere Gegner werden einmal viel Geld bezahlen, um dieses Schriftstück zu besitzen, denn mit der Unterschrift eines Mitglieds der Militärmission werden sie beweisen, daß die Deutschen nicht allein nichts getan haben, um die Armenierverfolgung zu verhüten, sondern daß gewisse Befehle zu diesem Ziel sogar von ihnen ausgegangen, d.h. unterschrieben worden sind.“[29]

Ein anderer deutscher Mittäter war der Artillerie-Offizier Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg, der rebellierende armenische Deserteure in Zeitun und später die armenischen Zivilisten in Urfa zusammengeschossen hat. Über die deutsche Botschaft in Konstantinopel sorgte er dafür, daß der den Armeniern freundlich gesinnte deutsche Konsul in Aleppo, Walter Rößler, die Bergstadt Zeitun nicht besuchen durfte.[30] Später, nach dem Eingreifen Wolffskeels in Urfa, fragte Rößler nach, „ob es zweckmässig ist, dass ein deutscher Offizier an einer Expedition gegen einen inneren türkischen Feind teilnimmt.“[31]

Die Einstellung der deutschen Militärs zum Völkermord hat der Schweizer Historiker Christoph Dinkel in einer Studie herausgearbeitet.[32] Er belegt, daß hohe deutsche Militärs die Vernichtung der Armenier guthießen. Humann habe geschrieben: „Die Armenier wurden jetzt mehr oder weniger ausgerottet, das ist hart aber nützlich.“ Und den Admiral und Chef der türkischen Flotte Wilhelm Souchon zitiert Dinkel mit dem Satz: „Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat.“ Der oberste deutsche Sanitätsoffizier der Militärmission, Hans Mayer, ein bayrischer Oberstabsarzt, mißbilligt als einziger Spitzenmann der Militärmission den Völkermord. Das tat auch von Lossow, der gegenüber dem schwedischen Militärattaché Carl Einar af Wirsén äußerte: „Die Massaker an den Armeniern sind die größte Bestialität der Weltgeschichte.“[33]

Bei den unteren Rängen war die Einstellung der deutschen Militärs gemischt. „Es ist falsch deutscherseits, wie es von Offizieren geäussert wurde, zu glauben, es komme auf das Leben tausender Armenier nicht an“, schrieb ein Beobachter an den Generaldirektor der Bagdadbahn in Konstantinopel, der den Brief an die Botschaft weiterleitete.[34] Einzelne Offiziere, aber auch einfache Soldaten, schilderten zum Teil detailliert die grauenhaften Zustände bei den Deportationen.

Umfangreicher belegt sind die Äußerungen und Taten der deutschen Diplomaten zum Genozid. Diejenigen Konsuln, die in den Deportationszentren tätig waren, berichteten ausführlich von den Massenmorden. Sie ließen sich von Vertrauenspersonen berichten, die im Land umherkamen, vor allem von Missionsangehörigen, die größtenteils mit Armeniern arbeiteten, aber auch von Offizieren, die sich als einzige Deutsche frei bewegen konnten. Auffallend ist, daß viele ausländische Missionarinnen, vor allem aus Skandinavien, wichtige Informationen lieferten. Die aktivste von allen war die Schweizerin Beatrice Rohner.

Einige Konsuln plädierten an ihre Vorgesetzten, das Massenmorden zu stoppen. Der Vali von Diarbekir, Reschid Bey, wüte unter der Christenheit seines Vilajets „wie ein toller Bluthund“, telegraphiert Vizekonsul Walter Holstein Mitte Juli 1915 aus Mossul, denn der habe in einer Nacht 700 Christen „wie Hammel abschlachten lassen. Reschid Bey sollte sofort abberufen werden.“[35]Ende Juli kabelte Konsul Walter Rößler aus Aleppo, der Botschafter möge der Regierung „dringend anraten“ den Vernichtungsbefehl zu widerrufen, „wenigstens Ausführung hinausschieben“. [36]

Am eindringlichsten hatte der Verweser des Konsulats von Erzurum, Max Erwin von Scheubner-Richter, Hilfe seines Botschafters erbeten, aber fast nur Ablehnung erfahren. „Elend der vertriebenen Armenier fürchterlich“, telegraphiert er am 18. Mai 1915, „erbitte Instruktion ob ich deswegen bei dem Oberkommandierenden Schritte unternehmen kann“, denn Scheubner war Offizier.[37] Wangenheims Antwort: „Unter den dargestellten Umständen sind Sie ermächtigt bei dortigem Oberkommando wegen der vertriebenen Armenier vorstellig zu werden und wenn Zurücknahme Maßregeln aus militärischen Gründen untunlich auf humane Behandlung der ausgewiesenen wehrlosen Bevölkerung hinwirken. Sie wollen Ihre Einwirkung indes in den Grenzen eines freundschaftlichen Rates halten und bei derselben den Charakter einer amtlichen Demarche vermeiden.“ [38]

Er habe, meldete Scheubner am 10.Juni „Instruktion gemäss Gelegenheit wahrgenommen armenischen Kreisen mitzuteilen, dass bei allem Wohlwollen unsere Regierung nach Lage der Dinge für sie nicht eintreten kann.[39] Als die Deportationen immer schlimmere Formen annahmen, bat Scheubner erneut um „Instruktion, welche Schritte ich zur Verhinderung weiterer Abschlachtungen unternehmen soll.“[40] Wangenheim antwortete: „Wenn wir auch gegen die Deportation der Armenier, soweit sie durch die Kriegslage gerechtfertigt ist, Nichts einwenden können, so müssen wir doch umso energischer, auch in unserem Interesse, darauf dringen, daß Niedermetzelungen der wehrlosen Bevölkerung unterbleiben.“[41] Am 30.Juni versuchte Scheubner es ein letztes Mal und bat um „Unterstützung und Instruktion“[42], weil die Türken nunmehr die armenischen Angestellten des Konsulats verhaftet hätten. Wangenheim-Vertreter Neurath antwortete: „Formell haben wir kein Recht wegen Verhaftung und Verschickung der drei fraglichen Personen zu intervenieren.“[43] Scheubners Ersuchen kommentierte der deutsche Generalstabschef im türkischen großen Hauptquartier, Fritz Bronsart von Schellendorff, mit gehässigen Bemerkungen.

Später wies Scheubner den Kanzler auf die Konsequenzen der lauen deutschen Haltung hin. Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann mußte eingestehen: „Die Auffassung, daß allzu große Zurückhaltung in der Armenierfrage unserem Ansehen auch bei den jungtürkischen Machthabern abträglich sein würde, dürfte nicht von der Hand zu weisen sein.“[44]

Hatte Wangenheim noch ab und zu gegen die Behandlung der Armenier aufbegehrt, wenn auch zaghaft, so hüllten sich seine Nachfolger in Schweigen. Mit einer Ausnahmen: Paul Graf Wolff-Metternich. Der hatte Ende 1915, als noch viele Armenier gerettet werden konnten, lange mit den führenden Männern der Jungtürken über die Massenmorde gesprochen. Er habe „eine äusserst scharfe Sprache geführt“, berichtete er nach Berlin und zog sein Fazit: „Proteste nützen nichts, und türkische Ableugnungen, dass keine Deportationen mehr vorgenommen werden sollen, sind wertlos.“ Sein Vorschlag: Man solle „in unserer Presse den Unmut über die Armenier-Verfolgung zum Ausdruck kommen lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufhören. Was sie leisten, ist unser Werk, sind unsere Offiziere, unsere Geschütze, unser Geld. Ohne unsere Hülfe fällt der geblähte Frosch in sich selbst zusammen. Wir brauchen gar nicht so ängstlich mit den Türken umzugehen. Leicht können sie nicht auf die andere Seite schwenken und Frieden machen. Mit den jetzigen Machthabern wird die englische Regierung nicht leicht paktieren.“ Den Entwurf eines Artikels schickte er mit.

Zimmermann, der fast alle Berichte der deutschen Konsuln gelesen hatte, aber auch Jagow waren bereit, auf Wolff-Metternichs Vorschläge einzugehen. Zimmermann: „Das werden wir jedenfalls tun müssen. Der Artikel wird aber vor Veröffentlichung zu mildern sein. In vorliegender Form würde er der Entente zu sehr passen“; Jagow: „Namentlich muß der Schluß freundlicher für die türkische Regierung gehalten sein.“ Doch Kanzler Bethmann Hollweg lehnte kategorisch ab: „Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“[45]

Nachdem der Mahner Metternich zum Schweigen gebracht worden war – Anfang Oktober 1916 wurde er hautsächlich auf Druck von Humann und Lossow von seinem Posten abberufen – begann die zweite Phase des Völkermords: die Deportation auch der Armenier aus dem Westen und der Mittelmeerküsten sowie die Todesmärsche der Überlebenden in die mesopotamische Wüste.

Genau diese Region spielte in den Vorkriegsüberlegungen einiger deutscher Politiker und Publizisten eine Rolle. Während sich Englands, Rußlands und Frankreichs Ambitionen auf türkische Territorien schon vor dem Ersten Weltkrieg klar abzeichneten, blieben die deutschen Pläne im vagen. Die Bagdadbahn war ganz offen Deutschlands Prestigeobjekt in der asiatischen Türkei, inoffiziell war sie auch die Achse kolonialer Interessen. Besonders Kilikien, die fruchtbare Provinz Adana, wurde von deutschen Politikern gern „unsere Interessensphäre“ genannt. In Kilikien aber waren die Armenier tonangebend. Ende Februar 1913 hatte deshalb Wangenheim versucht, seine Oberen für die Armenier zu interessieren, um sie für deutsche Interessen zu gewinnen.

„Die über ganz Kleinasien und Nordpersien verbreiteten Armenier sind das gegebene Element zum Aufbau einer engmaschigen politischen Propaganda in Vorderasien. In dem Augenblick, wo die Liquidation der asiatischen Türkei in greifbare Nähe rückte, mußte es von großem Werte sein, über ein solches Agitationsinstrument verfügen zu können. Bekommen wir Einfluß auf die armenische Bewegung, so haben wir ein wirksames Mittel in der Hand, um unter Wahrung und Erweiterung unserer eigenen Interessen die Türken in ihrer Reformarbeit zu unterstützen. Sollte es sich aber in Zukunft herausstellen, daß der Auflösungsprozeß der Türkei nicht mehr aufzuhalten ist, so wird es für uns von großem Werte sein, bei der Geltendmachung unserer Rechte in Kleinasien das einheimische armenische Element hinter uns zu haben.“[46]

Außenamtschef Jagow lehnte zwar eine Annäherung an die Armenier ab, verfolgte aber ebenfalls Pläne einer deutschen Herrschaft oder Kolonisierung. Das zeigt ein privater Briefwechsel zwischen Wangenheim und Jagow. In einem Schreiben vom 8. Mai 1913 ging Jagow davon aus, „daß auch die asiatische Türkei zusammenbricht“, und für ihn war auch klar, daß Deutschland davon zu profitieren gedachte. Aber: „Unsere Interessen haben noch zu wenig Wurzeln geschlagen u. unsere Interessensphäre ist noch zu wenig durch feste Grenzen bezeichnet.“ Immerhin sei „das Gebiet, auf welches uns die Zukunft hinweist, von allem Türkischen Besitz ja das Türkischste.“[47] Am 29. Juli ging Jagow einen Schritt weiter: „Die Türkei hat für uns nur noch das eine Interesse: daß sie in Asien noch solange fortbesteht, bis wir uns in unseren dortigen Arbeitszonen weiter consolidiren u. für die Annexion fertig werden.“ Bis dahin sei Reichspolitik, die Türkei zu erhalten, „so lange unser Interesse es erfordert.“[48] Die Türkei, so Jagow, „ist für mich nur noch der Knochen, den die anderen Hunde nicht fressen sollen, solange ich nicht mitessen mag.“ Der Ausbruch des Weltkriegs veränderte die Interessenlage, nunmehr bestimmten die Militärs den Gang der Dinge.

Und sie machten genau das, was die offizielle Türkei den Armeniern bis heute vorwirft: sie infiltrierten die Gebiete im Rücken der russischen Armee. Der vom Kaiser herbeigesehnte und vom Sultan verkündete Heilige Krieg sollte den Aufruhr der Muslime in Rußland, in Mesopotamien und in Ägypten bewirken. Am 2. Januar 1915 erstattete der Balkan- und Orientkenner Ernst Jäckh, Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Vereinigung, enger Freund von Hans Humann und Mitglied der Propagandaabteilung „Zentralstelle für Auslandsdienst“ dem Großen Hauptquartier einen 15seitigen Bericht und verkündete darin: „Am erfolgreichsten hat der heilige Krieg bislang im Kaukasus gewirkt. Die Einschließung des russischen Batums ist ohne türkisches Militär gelungen, nur durch 100 türkische Gendarmen und durch etwa 40000 bewaffnete Mohammedaner aus dem Kaukasus, die dem Ruf des heiligen Kriegs gefolgt sind.“[49]

Es war mehr Propaganda, und Envers erster militärischer Vorstoß gegen Rußland in den Wochen darauf endete mit der völligen Niederlage. Nunmehr rieten die Militärs dazu, die Armenier aus den Grenzgebieten zu deportieren. Die Absichten der Jungtürken beschränkten sich aber nicht nur auf die unmittelbare Kriegszone. Die türkische Regierung betonte in Memoranden mehrmals, daß die Umsiedlungen überall dort durch militärische Gründe gerechtfertigt seien, wo Armenier siedelten – also im ganzen Land. Dem stimmte die deutsche Seite nicht zu. Aber in ihrer Antwort auf eines dieser Memoranden findet sich eine Formulierung, die Rückschlüsse zuläßt. Wolff-Metternich konstatierte, „dass die Umsiedelungsmaßnahmen nicht nur, wie wir zugegeben haben in den Ostprovinzen, sondern im ganzen Reichsgebiet“ stattgefunden hätten.[50] Die Formulierung „zugegeben“ ist zwar ein wenig unüblich, kann aber nur im Sinne von „zugestimmt“ interpretiert werden. Mit „Ostprovinzen“ ist eindeutig der Osten der heutigen Türkei gemeint. Die Deutschen, anders ist dieser Satz nicht zu interpretieren, hatten also den Deportationen der Armenier aus ihren traditionellen Siedlungsgebieten zugestimmt. Im Westen widersetzte sich das Auswärtige Amt dann vor allem der Deportation der Armenier Konstantinopels.

Was brachte deutsche Militärs und Diplomaten dazu, die Armenier zu vertreiben? Prägend für beide war einmal der bereits zu Beginn des Jahrhunderts stark ausgeprägte Antisemitismus. Bronsart nannte die Armenier „9 mal schlimmer im Wucher wie die Juden“ und sprach vom US-Botschafter als „dem Juden Morgenthau, dem Gesandten der Ver-un-reinigten Staaten von Nordamerika“.[51]

Die Zivilisten standen den militärischen Ultras kaum nach. Schon 1913 hatte der damalige deutsche Geschäftsträger in London, der spätere Botschafter in Konstantinopel und Außenminister Richard von Kühlmann, die Armenier „ein hochbegabtes, aber unruhiges Volk“ genannt, das den Juden ähnlich sei. Die Armenier, so Kühlmann, hätten sich „in noch weit höherem Grade als die Juden als Elemente der Zersetzung erwiesen und überall der Revolution die gefährlichsten Kämpfer gestellt“. Der Konstantinopler Korrespondent der Frankfurter Zeitung, Paul Weitz, einer der engsten Ratgeber von Botschafter Wangenheim, schrieb über die Armenier: „Als Kaufleute gelten sie für skrupellos, das Wirtsvolk suchen sie zu bewuchern“. Und auch die Kirchenleute kompromittierten sich. Im Oktober 1918 schrieb der deutsche Botschaftsprediger Graf Lüttichau, als er die verelendeten Armenier im Osten aufsuchte, die Türkei erziehe förmlich „ein Proletariat, das, losgelöst von der eigenen Scholle, zu allen Gemeinheiten, die es nur gibt, fähig sein wird, nur um nicht zu verhungern. Dieses Proletariat wird sich vor allem in den Städten ansammeln, dort wird es wirken wie an vielen Orten die Juden in Europa, parasitenhaft, und aus ihm wird sich ein Verbrechertum rekrutieren.“[52] Die Allgemeine Missionszeitschrift nannte die Armenier 1919 ein „hochbegabtes Volk, das sich mit aller Energie auf den Großhandel, die Bankgeschäfte und den Wucher konzentriert“ habe, „eine Entwicklung ähnlich derjenigen der osteuropäischen Juden.“[53]

Zu Antisemitismus und Haß auf den Westen gesellten sich völkische Gedanken. Humanns Freund Ernst Jäckh lobte Enver, dem immer der Gedanke einer „völkischen Erziehung“ vorgeschwebt habe: „Ein Volk, das dies nicht kann, sei heute nicht existenzberechtigt.“[54] Dem fügte Wangenheim Blut-und-Boden-Gedanken hinzu: „Man nannte die Armenier die Juden des Orients und vergaß darüber, daß es in Anatolien auch einen starken armenischen Bauernstamm gibt, der alle guten Eigenschaften einer gesunden Landbevölkerung besitzt, und dessen ganzes Unrecht darin besteht, daß er seine Religion, seine Sprache und seinen Besitz zähe gegen die ihn umgebenden Fremdvölker verteidigt.“[55] Auch der deutsche Vize-Konsul in Alexandrette (Iskenderun), Hermann Hoffmann, einer der scharsinnigsten Beobachter des Völkermords, bezeichnete die armenischen Bauern als sympathischeren „Menschenschlag als die der Welt bekannteren handeltreibenden Armenier der Grossstädte. Körperlich gesund, fruchtbar, geistig regsam und strebsam sind sie für die wirtschaftliche Entwicklung des zurückgebliebenen Landes ein zu wertvoller Bestandteil, als dass ihr Verschwinden … nicht eine lange fühlbare Lücke hinterlassen sollte.“[56]

Hoffmann hatte über die negative Stimmung der Armenier gegenüber den Deutschen berichtet, die sie der Mittäterschaft oder zumindest der Duldung des Genozids bezichtigten, dann aber – völkisch – angemerkt: „Würde die Verschickung der Armenier wirklich zu ihrer Ausrottung führen, so wären diese armenischen Stimmungen belanglos. Es wird aber, selbst wenn die Verschickung noch Monate fortdauert, immer noch ein nennenswerter Bruchteil der Armenier übrig bleiben.“ Ein anderer Diplomat, dem wir einen der ausführlichsten Augenzeugen-Berichte über Schicksal der in die mesopotamische Wüste vertriebenen Armenier verdanken, war der deutsche Konsul in Täbris Wilhelm Litten. Auf einer Reise nach Aleppo führte er ein minutengenaues Protokoll über die Verheerungen der Todesmärsche. „Aber nicht alle werden umkommen“, endete sein Bericht, „übrig bleiben werden einige, die eine eiserne Gesundheit, eine abgefeimte Schlauheit und reiche Mittel besitzen. Sie werden einen unversöhnlichen Hass gegen die Türkei und das Deutsche Reich in sich aufgespeichert haben. Diese Lebenskraft in den Adern, werden sie vielleicht zahlreiche Nachkommen zeugen.“[57] Wie hieß es im Wannsee-Protokoll von 1941, das die Phase der industriellen Vernichtung der Juden einläutete? „Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzellen eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.“[58]

Die Armenier hatten unter den Deutschen nur wenige Freunde, der wichtigste unter ihnen war Johannes Lepsius. Er hatte durch mehrere Schriften auf die Nöte der Armenier in der Türkei aufmerksam gemacht und betrieb in Urfa eine Krankenstation und eine Fabrik für armenische Witwen vergangener Massaker. Aber auch Lepsius propagierte deutsche Kolonien und nannte nicht nur Kilikien, sondern auch Mesopotamien „deutsches Arbeitsgebiet“, dem er durch Einwirken auf die Armenier zu dienen glaubte. Er plante eine Reise in die Türkei, „nicht um auf Pforte Druck auszuüben sondern um Armenier zur Vernunft zu bringen“, wie Zimmermann schrieb, und „den dortigen armenischen Führern Notwendigkeit der Loyalität gegenüber der türkischen Regierung klar zu machen.“[59] Als die ersten Elendstrupps bereits unterwegs waren, nannte er „auch Deportationen unbedenklich“, allerdings nur militärisch motivierte und nicht todbringende.[60]

Nach einem Gespräch mit Kriegsminister Enver war ihm klar, daß die Jungtürken wild entschlossen waren, die Armenier auszurotten. Innerhalb von Tagen wurde Johannes Lepsius wieder das, was ihn berühmt gemacht hatte: der stimmgewaltige deutsche Anwalt für die Armenier. Er fertigte seinen hervorragenden „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ an, der an 20000 Pfarrstellen und wichtige Politiker ging.

Kaum war sein Meisterwerk verschickt, verschwand Lepsius von der Bildfläche, zumindest der des Auswärtigen Amts, das monatelang im Dunklen tappte, was die Tätigkeit des Armenierfreunds anbelangte. Offiziell war Lepsius in Holland zu einer Kur, inoffiziell wieder in politischer Mission unterwegs. Er versorgte seine Freunde mit Informationen über den Völkermord, arbeitete aber in der Hauptsache für den neuen starken Mann, Erich Ludendorff und dessen Leiter der Propagandaabteilung Hans von Haeften, „eine Arbeit, die auf Herbeiführung des Friedens gerichtet war“, so Lepsius[61] Sie bestand darin, über holländische Mittelsmänner Kontakte zu englischen Politikern der „Union of Democratic Control“ zu knüpfen, zu denen auch die Armenierfreunde James Lord Bryce und Arthur Ponsonby gehörten. Ludendorff und Haeften hegten die Illusion, der für einen Verständigungsfrieden bereiten Britenfraktion einen Frieden zu deutschen Bedingungen abzutrotzen – eine völlige Fehlkalkulation.

Außenpolitisch weitgehend erfolglos, aber von historischer Bedeutung war auch die nächste politische Mission von Lepsius: Eine Dokumentation diplomatischer Akten herauszugeben, die Deutschland reinwaschen sollte. Aus Berichten und Telegrammen des Auswärtigen Amts zum Völkermord fertigte er sein 1919 erschienenes Buch „Deutschland und Armenien“ an[62]. Für ihn war wichtig, damit den Völkermord zu belegen, was ihm auch gelang. Um die deutsche Mitwisserschaft zu verschleiern, hatten das Amt und Lepsius viele Akten manipuliert.[63] Doch auch die gesäuberten Dokumente überzeugten den Westen nicht. „Leider hat das Buch in der Presse des feindlichen und neutralen Auslands nicht die erwartete Aufnahme gefunden“, schrieb der im AA mit der Auswahl befaßte Regierungsrat Göppert dem deutschen Gesandten in Stockholm, „die ‚Times’ will darin geradezu den dokumentarischen Beweis der deutschen Mitschuld erblicken.“[64] Die zum Teil schon fertigen Übersetzungen in Englisch und Französisch wurden eingestampft.

Der Schwenk des Aufklärers Lepsius ins tief rechtskonservative Lager um den letzten Kanzler Prinz Max von Baden, dessen wahre Gesinnung sein liberaler und renommierter jüdischer Sekretär Kurt Hahn nur sehr oberflächlich wegbügelte[65], kam nicht von ungefähr. Wie der Prinz verherrlichte Lepsius den Rassisten Houston Stewart Chamberlain (Lepsius über dessen Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, des Kaisers und Hitlers Leiblektüre: „Chamberlain ist groß! groß!“[66]), äußerte sich antisemitisch („das jüdische Volk hat ja Mittelalter und Neuzeit als Parasit der Germanen überdauert“[67]), jammerte über den Versailler Vertrag (die Götter der Entente ziehen es vor, uns das Leben des Prometheus zuzuweisen und uns, geschmiedet an den Versailler Vertrag, die Leber aushacken zu lassen.“[68]), propagierte Groß-Deutschland (”bis wir mit einem Kessel voll dampfenden Hirsebreis auf der schönen blauen Donau von Regensburg zum Kahlenberge fahren können, um die Geburtstunde von Groß-Deutschland zu feiern”[69]) und nannte die Weimarer Republik „ein Intermezzo“, das „durch einen neuen Abschnitt deutscher Kaisergeschichte abgelöst“ werde.[70] Um „seine“ Armenier mit den neuen Strömungen in Einklang zu bringen, ließ er sie durch Freund Paul Rohrbach zu Ariern erklären. [71]

1924 besuchte der Leiter der bedeutenden dänischen Armenierhilfe, Åge Meyer Benedictsen, seinen alten Freund Johannes Lepsius in Potsdam. Lepsius sei „weit nach rechts gerückt“ schrieb er seiner Frau, „der Kaiser, für uns eine unerträgliche Witzfigur und ein Hohlkopf, steht bei ihm hoch in der Gunst.“ Und dann referierte Benedictsen die Gedanken von Lepsius: Die Demokratie habe ihre Tage gehabt, sei nichts wert, habe weder Persönlichkeiten hervorgebracht, noch Ehre oder Würde. Sie sei nicht anderes als „Knochenerweichung“. Jeder, der in Deutschland denken könne, warte auf die schnelle Rückkehr der Hohenzollern. Wenn der Kronprinz ein Katholik wäre, würde er seinen Thron noch schneller zurückbekommen. Benedictsens Fazit: „Die Zukunft Europas verfinsterte sich vor meinen Augen, als er sprach.“[72]

Das offizielle Deutschland, untrennbar mit dem größten Völkermord aller Zeiten verbunden, tat so gut wie nichts, um den unheimlichen Vorläufer des Holocausts zu verhindern. Und der Mann, der den Völkermord an den Armeniern in seinem ganzen Ausmaß publik gemacht hatte, stimmte voll in das Lamento jener ein, die den Aufstieg des Dritten Reichs erst möglich machten und damit den nächsten Genozid heraufbeschworen. Ironie der Geschichte? Wohl kaum – eher ein Problem deutscher Eliten.

Keine ethische, sondern eine politische Frag ist, ob nicht die deutschen Spitzenmilitärs in der Türkei für den Genozid an den Armeniern auch völkerrechtlich eine direkte Verantwortung trugen. Der Bündnisvertrag gibt Anlaß zu dieser Annahme. Als Wangenheim einen bewußt harten Vertrag entwarf, der in Punkt drei bestimmte: „Für die Dauer des Krieges übernimmt die deutsche Militärmission das Oberkommando über die türkische Armee“, gab Kanzler Bethmann Hollweg zu bedenken, die Türkei könne diesen Punkt „so apodiktisch gefaßt“ wohl nicht annehmen und schlug als Kompromiß vor: „Vielleicht genügt eine Formel, die die tatsächliche Ausübung des Oberkommandos durch die Militärmission sicherstellt.“[73] Doch auch diesen Punkt hatte Enver akzeptiert, wenngleich die Türken eine Verwässerung wünschten und erhielten, die dem Sultan den Oberbefehl garantierte. „Aber General Liman hat mir amtlich mitgeteilt“, bestätigte Wangenheim in einer Zusatzinformation zum 3. Paragraphen, „daß er mit Kriegsminister Enver ein detailliertes Abkommen bewerkstelligt habe, welches die tatsächliche (Unterstreichung durch Wangenheim) Oberleitung durch die Militärmission gewährleistet.“[74]

Was immer der Vertrag zwischen Enver und Liman auch für Zugeständnisse enthielt, die faktische militärische Führung lag aus Sicht der Reichsspitze weiterhin bei den Türken. Aber die deutschen Offiziere der Militärmission hatten vertraglich möglicherweise weit höhere Befugnisse oder auch Einspruchsmöglichkeiten. Dann bekämen auch die angeblichen Ratschläge deutscher Spitzenoffiziere zu den Deportationen einen anderen Stellenwert. „Es soll und darf nicht geleugnet werden“, schrieb der deutsche Leiter der Operationsabteilung im türkischen Großen Hauptquartier, Otto von Feldmann nach dem Krieg, „dass auch deutsche Offiziere – und ich selbst gehörte zu diesen – gezwungen waren, ihren Rat dahin zu geben, zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete im Rücken der Armee von Armeniern freizumachen.“[75] Und die „Deutsch-Armenische Korrespondenz“ schrieb Ende 1918 über den Deportationsbefehl vom August 1915: „Tatsächlich ist der Plan auch dem Feldmarschall v.d. Goltz vorgelegt und von ihm genehmigt worden.“[76] Als Liman von Sanders im November 1916 aus militärischen Gründen die Deportationen der Armenier aus Smyrna untersagte, fügte sich selbst ein Talaat, der sich deutschen diplomatischen Einwänden sonst stets verschloß, dieser Order.

Quelle: HISTORICUM – Zeitschrift für Geschichte, Nr. 97, Herbst 2007, S. 19-25

[1] Politisches Archiv des deutschen Auswärtigen Amts (PA-AA), R 1913, A.S. 1367, 23.7.1914.

[2] PA-AA, Nachlaß Wangenheim.

[3] PA-AA. R 1913, A.S. 1807, 14.7.1914.

[4] PA-AA, R 1913; A.S. 1272, 18.7.1914.

[5] PA-AA, R 1913; A.S. 1344, 22.7.1914.

[6] PA-AA, Botschaft Konstantinopel (BoKon) Bd. 169, A53a, 3451 [1915-06-06-DE-012] [Dokumentenname in eckigen Klammern findet sich in www.armenocide.net].

[7] PA-AA, R 1913, A 14975, 16.7.1914.

[8] PA-AA, R 1915, A 8112, 5.3.1915.

[9] PA-AA, R 1914, A 21992, 14.9.1914.

[10] PA-AA, R 1913, zu A.S. 1468, 31.7.1914.

[11] PA-AA, R 1913, A.S. 1506, 31.7.1914.

[12] PA-AA, R 1913, A 10668, 1.8.1914.

[13] PA-AA, R 1913, A.S. 1570, 2.8.1914.

[14] PA-AA, R 1913, A.S. 1518, 31.7. 1914.

[15] PA-AA, R 1913, zu A.S. 1569, 3.8.1914.

[16] PA-AA, R 1913, A.S. 1637, 6.8.1914.

[17] PA-AA, R 1914, A 21286, 10.9.1914.

[18] PA-AA, R 1917, A 23609, 3.6.1918.

[19] Quelle: www.goethe.de/nmo/priv/1351129-STANDARD.pdf. Kress von Kressenstein am 12. 10. 1943 in einem Brief an die Direktion des Heeresarchivs: „Es besteht jedenfalls kein Zweifel darüber, dass es für die maßgebenden türkischen Persönlichkeiten schon Anfang 1916 beschlossene Sache war, sich aus der russischen Hinterlassenschaft zunächst einmal den Kaukasus anzueignen.“

[20] PA-AA, R 22404, HQ 58, 3.1.1915.

[21] PA-AA, R 13181, A 14516, 3.9.1908.

[22] PA-AA, BoKon Bd. 173, A53a, 2525 [1916-08-23-DE-001].

[23] Hirschfeld, Krumreich, Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003, S. 568.

[24] Jürgen von Ungern-Sternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf ‚An die Kulturwelt!“, Stuttgart, 1996, S. 145.

[25] PA-AA, R 1916, 20.4.1917.

[26] PA-AA, R 1915, A.S. 2297, 16.7.1916.

[27] PA-AA, R 1916, A.S. 2453, 13.6.1917.

[28] The Baghdad Railway 1915-1916: A Case Study in German Resistance and Complicity, in Richard Hovannisian (ed.): Remembrance and Denial : The Case of the Armenian Genocide. Detroit, Mich, 1999, S 67-112.

[29] PA-AA, BoKon, Bd. 171, A53a, 6866, A 32610, [1915-11-18-DE-001].

[30] PA-AA, BoKon, Bd.168, A53a, 1959 [1915-03-30-DE-001].

[31] PA-AA, BoKon, Bd. 171, A53a, 6437 [1915-10-25-DE-011],

[32] Christoph Dinkel: German Officers and the Armenian Genocide; in Armenian Review, Frühjahr 1991, Bd. 44, N. 1/173, Seiten 77-133.

[33] Carl Einar af Wirsén: Minnen från fred och krig, Stockholm, 1942, S. 226; zitiert nach Vahagn Avedian: The Armenian Genocide 1915 – From a Neutral Small State’s Perspective: Sweden, Master Thesis, Mai 2008.

[34] PA-AA, R 14105, A 49683, [1918-11-01-DE-001].

[35] PA-AA, BoKon Bd. 169, A53a, 4184, [1915-07-10-DE-011].

[36] PA-AA, BoKon Bd. 170, A53a, 4453, [1915-07-30-DE-011].

[37] PA-AA, BoKon Bd. 168, A53a, 3034 [1915-05-18-DE-012].

[38] PA-AA, BoKon Bd. 168, A53a, 3034. [1915-05-19-DE-015].

[39] PA-AA, BoKon Bd. 169, A53a, 3555, [1915-06-10-DE-001].

[40] PA-AA, BoKon Bd. 169, A53a, 3714, [1915-06-18-DE-013].

[41] PA-AA, BoKon Bd. 169, A53a, 3714, [1915-06-21-DE-012].

[42] PA-AA, BoKon Bd. 96, 10/12, 5124, [1915-06-30-DE-003].

[43] PA-AA, BoKon Bd. 96, 10/12, 5132, [1915-07-03-DE-001].

[44] PA-AA, BoKon Bd. 174, A53a, 3740, [1916-12-18-DE-001].

[45] PA-AA, R 14089, A 36184 [1915-12-07-DE-001].

[46] PA-AA, R 14078; A 4311 [1913-02-24-DE-001].

[47] PA-AA, Nachlaß Wangenheim, Brief vom 8. Mai 1913.

[48] PA-AA, Nachlaß Wangenheim, Brief vom 28. Juli 1913.

[49] PA-AA, R 1915, A 436, Jäckh an Unterstaatssekretär.

[50] PA-AA, R 14091, A 9024 [1916-04-03-DE-002].

[51] Dinkel a.a.O.

[52] PA-AA, R 14104, A 44066 [1918-10-18-DE-001].

[53] PA-AA, R 14105, A 4156 [1919-02-06-DE-002].

[54] PA-AA, R 1914, A 26385, 12. 10. 1914.

[55] PA-AA, R 14078, A 4311 [1913-02-24-DE-991].

[56] PA-AA, R 14090, A 2889 [1916-01-03-DE-001].

[57] PA-AA, R 14090, A 5498 [1916-02-09-DE-001].

[58] www.ns-archiv.de/verfolgung/wannsee/wannsee-konferenz.php.

[59] PA-AA, BoKon Bd. 169, A53a, 3467 [1915-06-06-DE-001].

[60] PA-AA, R 14086, A 18628 [1915-06-17-DE-001].

[61] Deutschland, Armenien und die Türkei – Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (LAH), herausgegeben von Hermann Goltz, Teil 2, Mikrofiche-Edition, Beleg 12368.

[62] ”Deutschland und Armenien 1914-1918 – Sammlung diplomatischer Aktenstücke”, herausgegeben und eingeleitet von Johannes Lepsius, Potsdam 1919.

[63] Alle Manipulationen sind in www.armenocide.net nachgewiesen, dort befindet sich auch der Artikel „Magisches Viereck“ über die Hintergründe der Manipulationen.

[64] PA-AA, R 14106, A 23177 [1919-08-21-DE-001].

[65] Karina Urbach/Bernd Buchner: Prinz Max von Baden und Houston Stewart Chamberlain; in Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 1, Januar 2004, S. 121.

[66] LAH 1484.

[67] LAH 1555.

[68] LAH 14469 (5).

[69] LAH 15180 (3).

[70] LAH 15180 (3).

[71] LAH 13409.

[72] Katri Meyer Benedictsen (Hg.): Åge Meyer Benedictsen – De Undertrykte Nationers Tolk, Kopenhagen 1934-35, Bd. II, S.156-57. Die Information verdanke ich dem dänischen Historiker Matthias Bjørnlund.

[73] PA-AA, R 1913, zu A.S. 1427, 18.7.1914.

[74] PA-AA, R 1913, A.S. 1571, Nr. 409 vom 2.8.1914.

[75] „Deutsche Allgemeine Zeitung“ Nr. 301 vom 30.6.1921.

[76] PA-AA, R 14105, A 51505 [1918-11-25-DE-001].