Die Aleviten im Wandel der modernen Geschichte

Hans-Lukas Kieser

Nach einer historiographischen Vorbemerkung werde ich mich einem Längsschnitt durch die moderne, vor allem ostalevitische Geschichte widmen. Ich gehe von der Unterscheidung zwischen West- und Ostalevitum aus, die zwar zentrale alevitische Elemente teilen, aber seit dem 16. Jahrhundert organisatorisch getrennt sind. Zum Schluss werde ich einige Gedanken zur Neubelebung des Alevitums äussern. Die Darstellungen im Handout (siehe Anhang) dienen einer knappen begrifflichen und zeitlichen Orientierung, für die im Vortrag die Zeit fehlt.

Seit seiner Entdeckung für ein internationales Publikum durch amerikanische Missionare in der Mitte des 19. Jahrhunderts, stand die Interpretation des Alevitums im Spannungsfeld von Ideologien. Deren prägendste ist der türkische Nationalismus mit seiner frühen These vom Alevitum als echtem Türkentum mit schahmanistischer Grundsubstanz. Diese entsprach dem nationalistischen Bedürfnis nach ethnischem prähistorischem Ursprung. Nach Ende des kemalistischen Einparteienregimes wurde diese These dahingehend revidiert, dass nicht mehr die heidnische Komponente, sondern die vorosmanisch-islamische Komponente qua unverfälschter Islam herausgestrichen wurde, was die türkisch-islamische Synthese förderte, die zunehmend politische Bedeutung gewann. Vor knapp zehn Jahren wurde eine kurdisch-nationalistische These konstruiert. Nicht unwichtig, wenn auch von weit geringer gesellschaftlicher Ausstrahlung, war die Interpretationstendenz der westlichen Entdecker und frühen Forscher, welche sich schon ein halbes Jahrhundert vor den Jungtürken mit dem Alevitum zu beschäftigen begannen. Vor einem abendländisch-humanistischen Hintergrund tendierten sie dazu, das Alevitum aus ihnen vertrauten Erscheinungen her zu deuten. Mehrere damalige Arbeiten betonten indes schon den volksreligiösen Charakter des Alevitums mit seinen vielfältigen Wurzeln und legten damit den Grund für jene wertvollen Forschungen, z. B. diejenigen von Yaschar Ocak, die sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren wieder aus dem Bannkreis der reichlich diffusen Schahmanismus-These lösten.

Längsschnitt durch die moderne ostalevitische Geschichte

I. Begegnung mit der Moderne (2. Hälfte des 19. Jhs.)

Soweit wir dies aus den spärlichen Quellen schliessen können, erhofften sich die Aleviten von den Tanzimat, den modernisierenden osmanischen Reformen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, eine Verbesserung ihres Status. Allerdings hegten sie wenig Vertrauen in die liberal klingenden Proklamationen der Tanzimatregierung. In der Tat wurde die Religionsfreiheit in den Provinzen nicht verwirklicht. Die Aleviten verspürten dagegen den verstärkten Zugriff des Zentralstaates, die Steuern und die allgemeine Wehrpflicht in ihren Regionen. Nur im Dersim (heutige Provinz Tunceli) bekämpften sie ihn erfolgreich.

Nach der Enttäuschung durch die Tanzimat kam es von den 1860er Jahren an in den Ostprovinzen zu einer Protestantismuswelle. Teils ausgelöst durch Besuche amerikanischer Missionare, meist jedoch nur als Folge einer über armenische Nachbarn vermittelten Protestantismusrezeption erklärten sich zahlreiche ostalevitische Dörfer und Stämme zu Anhängern des Protestantismus. In einer eigenwilligen Interpretation betrachteten sie diesen als Synonym mit Fortschritt und moderner Lebensweise wie auch mit zeitgemässer, ihrem Alevitum nahestehender Herzensreligion. Nicht zuletzt erhofften sie sich jenen diplomatischen Schutz Englands, den die 1850 etablierte kleine osmanisch-protestantische Religionsgemeinschaft, die vor allem aus Armeniern bestand, genoss. Viele Aleviten solidarisierten sich mit diesen Armeniern, welche die nationale gregorianische (armenisch-apostolische) Kirche in jenen Jahrzehnten mit dem Bann belegte. Der osmanische Staat indes beurteilte die protestantische Strömung unter den Aleviten als eine gefährliche Vereinnahmung nominal muslimischer Untertanen.

Die Begegnung mit der Moderne in Form von selbstbewussten westlichen Sendboten, von Missionsschulen und -spitälern, der armenischen Bildungsrenaissance sowie Einrichtungen der Tanzimat und des hamidischen Staates in den Ostprovinzen führte bei den Aleviten zu einer ersten grundlegenden Vetrauenskrise in das System der Dedes und Seyite. Diese bezogen ihre Macht aus der religösen Lehre und ihrer behaupteten Abstammung, waren aber in vielen Fällen völlig ungebildet und überfordert, ihrer Gemeinde brauchbare zeitgenössische Orientierung zu geben. Aus dieser ersten prinzipiellen Verunsicherung durch die Moderne heraus muss auch das Verhältnis zu Sultan Abdulhamid und dessen Ostprovinzenpolitik muslimischer Einheit gedeutet werden.

Dieser auf die Tanzimat folgende Sultan (Amtszeit 1876-1909) betrieb eine aktive antiprotestantische und antiarmenische Sunnitisierungspolitik. Obwohl ihm die Aleviten reserviert gegenüberstanden, zumal er für seine Politik sein Kalifat herausstrich, gehörten auch sie teilweise zu den Profiteuren der hamidischen Politik. Während der grossen antiarmenischen Pogrome 1895 machten die kurdischen Aleviten bei den Plünderungen – nicht bei den Massenmorden – mit und eigneten sich vermutlich auch, wie dies sunnitische Kurden damals systematisch taten, armenischen Grundbesitz an. Viele Ostaleviten litten unter den von Abdulhamid gegründeten sunnitischen Stammesmilizen. Einige Dersimstämme versuchten aber auch, wiewohl erfolglos, zu privilegierten Hamidiye – wie diese Milizen hiessen – erhoben zu werden.

II. Ära der Jungtürken (1. Hälfte des 20. Jahrhunderts)

Das erste alevitische Heraustreten an die Öffentlichkeit seit dem 16. Jahrhundert, nämlich dasjenige nach der jungtürkischen Revolution 1908, geriet im Ersten Weltkrieg in den Strudel einer türkistischen Staatspolitik, die das Alevitum als Alttürkentum ideologisch vereinnahmte, und einer sich formulierenden kurdischen Gegenideologie. Der seit dem 16. Jahrhundert bestehende Graben zwischen der Hacibektasch-Organisation, die in jenen Jahren mit den Ittihadisten und den Kemalisten kooperierte, und den Ostaleviten vertiefte sich damit. Erst die Abschaffung des Kalifates brachte 1924 auch zahlreiche Ostaleviten auf die Seite Mustafa Kemals, so dass sie das Verbot der Tekkes 1926 widerstandslos duldeten. Allerdings schlug die blutige Niederwerfung der kurdischen Freiheitsbewegung vom Koçgiri-Dersim 1921 und vor allem der an einen Völkermord grenzende Dersimfeldzug von 1938 bis heute unverheilte Wunden zwischen Republik und Alevitum.

Als 1908 die osmanische Verfassung ausgerufen wurde, gehörten die Aleviten zu den begeistertsten Anhängern einer neuen Ära, die Gleichberechtigung und die öffentliche Artikulation alevitischer Identität zu versprechen schien. In der Nacheiferung christlicher Nachbarn, deren Bildungsrenaissance in den anatolischen Provinzen damals schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt war, planten sie Dorfschulen zu errichten. Die zentralistische und türkistisch-islamische Politik der 1913 errichteten Einparteiendiktatur verschreckte indes viele Aleviten. Nach Aussage von Hasan Reschid Tankut, 1913/14 Beamter in Sivas, unterstützten die Aleviten jener Region den unter internationaler Aufsicht stehenden Reformplan für die Ostprovinzen von anfangs 1914 und standen damit Seite an Seite mit den christlichen Bewohnern. Diese wie jene begrüssten zu ihrem Schutz eine internationale Präsenz vor Ort. Im Gegensatz dazu identifizierte sich ein Teil der Bektaschis mit den Ittihadisten, die ihnen als den angeblichen Bewahrern alttürkischer Tradition einen privilegierten Platz auf der nationalistischen Wertskala zuwiesen.

Einen markanten Einschnitt in das Verhältnis von Ostaleviten, Bektaschiye und Staat bedeutete der Erste Weltkrieg. Während die zentrale Bektaschi-Organisation mit ihrem für die Dorfaleviten zuständigen Oberhaupt (Çelebi) Cemaleddin Effendi offen mit dem Kriegsregime kollaborierte und für Enver Pascha die Kriegstrommel schlug, widersetzten sich die meisten Ostaleviten unter Anleitung der Dersim-Seyite jeglicher Zusammenarbeit. 1915/16 zeigten zahlreiche kurdische Alevitenstämme in ihrem Wirkungsgebiet aktiven Widerstand gegen die Eliminierung “ihrer” Armenier, indem sie Schlepperdienste organisierten oder, in Einzelfällen, armenische Bekannte mit Waffengewalt aus den Deportationskolonnen befreiten.

Die Ostaleviten teilten mit den Armeniern die Distanz zum Staat und zu den sunnitischen Lokalherren, aber auch Feste und lokale Wallfahrtsorte. Nicht selten wählten alevitische Familien einen armenischen Freund als kirve, das heisst als Pate bei der Beschneidung ihres Sohnes. Ich kenne einen Mann aus Tunceli, dessen Grossvater einen armenischen Priester zum kirve hatte. Es gab auch gemischte Heiraten, meist jedoch von Armenierinnen, die dann im Alevitum aufgingen. Wir wissen bis jetzt quantitativ wenig über die umfangreichen Konversionen von ostanatolischen Armeniern, die sich zu Aleviten erklärten, um den Verfolgungen in der hamidischen Ära zu entgehen. Zahlreiche solche Konversionen gab es auch während und nach dem Ersten Weltkrieg. Die alevitische Endogamie-Regel, die sich im 16. Jahrhundert herausgebildet hatte, kannte viele Ausnahmen, zumindest für Christen.

Mit Betroffenheit erzählen bis heute alte Aleviten von der “Verschickung” der Armenier 1915/16 und von der Angst, die ihre Eltern hatten, dasselbe Schicksal zu erleiden. Sie betonen oft, dass ihre Vorfahren nicht an den Massakern beteiligt gewesen seien, dass im Gegenteil Armenier bei ihnen Zuflucht gefunden hätten. Allerdings wurde in den folgenden Jahrzehnten die armenische Identität dieser Geretteten – meist handelte es sich um Frauen und Kinder, selten auch um Männer oder ganze Familien – zu einem Tabuthema. Grund dafür war die Angst vor dem latenten Antiarmenismus in der modernen Türkei, aber auch, dass man selbst nicht an die unverarbeitete Vergangenheit erinnert werden wollte.

Trotz der kohabitativen Nähe, gemeinsamer Traditionen und nicht selten Verbrüderung zwischen Aleviten und Armeniern hatten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einigen Regionen grundlegende Interessekonflikte ergeben, z. B. in der Gegend rund um den Dersim, wohin seit dem 19. Jahrhundert ein beträchtlicher alevitischer Migrationsdruck bestand. In den Dörfern im Raum zwischen Erzincan und Tercan wurde dieser Druck vor dem Weltkrieg noch weitgehend mit friedlichen Mitteln bewältigt. Es entstanden alevitische Siedlungen in der Nachbarschaft zu den armenischen, wobei letztere über bessere Äcker und Weiden, eine bessere Infrastruktur und besseres Knowhow in Landwirtschaft, Handwerk und Handel verfügten.

Die Deportationen vom Sommer 1915 gaben den neuen Nachbarn jedoch die Gelegenheit, vorteilhaftere Plätze einzunehmen. Die Rückkehr der Armenier mit den Russen 1916 geschah daher bereits in einem Klima armenisch-alevitischer Spannung, auch wenn die meisten Aleviten der Region die russische Präsenz begrüssten, da sie Sicherheit und eine ökonomische Verbesserung brachte. Als sich die russische Armee 1917 zurückzog, kam es jedoch zu blutigen Auseinandersetzungen auch zwischen Aleviten und armenischen Milizen. Für jene ostalevitischen Neusiedler, die sich armenischen Grundbesitz angeeignet hatten, war die kemalistische Bewegung, die bekanntlich aus den Vereinen zur Verteidigung muslimischer Interessen – namentlich von Eigentumsansprüchen in der Region Erzincan-Erzurum-Kars – hervorgegangen war, der beste Garant für die Gewährleistung des Status quo.

Ende 1919 ergab sich eine absurde Situation: Mustafa Kemal pilgerte nach Hacibektasch zu Ahmed Cemaleddin Efendi, um sich seiner Unterstützung zu versichern, während sich der alevitisch-kurdische Führer Alischer auf den Sultan-Kalifen berief, um die Illegitimität der kemalistischen Bewegung und ihrer Rekrutierungsbemühungen unter den Aleviten sowie die Berechtigung der eigenen Autonomieforderung zu unterstreichen. Die Ostaleviten waren damals insgesamt tief verunsichert. Diejenigen in Koçgiri und im Westdersim liessen sich vom Kreis um Alischer zum Kampf für die eigene Autonomie mobilisieren, die anderen standen dieser Aufstandsbewegung ängstlich neutral gegenüber.

Die mehrschichtige Isolierung des jahrhundertealten alevitischen Zentrums Dersim zeichnete sich Ende 1919 deutlich ab. Sie nahm in der alevitischen Welt zu, als sich 1924 nach Abschaffung des Kalifats zahlreiche Ostaleviten mit mehr Hoffnung dem neuen Staat zuwandten. Sie wurde durch die Tatsache verstärkt, dass dieses Herz des Alevitums in den Augen der türkisch-sunnitischen Machtelite das doppelte Stigma, alevitisch und kurdisch zu sein, trug. Nachdem die junge Republik bis 1930 mit dem sunnitisch-kurdischen Widerstand aufgeräumt hatte, widmete sie sich der vollständigen Unterwerfung des Dersims. Die Zivilisierungsrhetorik cachierte nicht nur für Journalisten in der Hauptstadt, sondern auch für zahlreiche Aleviten ausserhalb des Dersims die tatsächlichen, im Sommer 1938 zu einem Vernichtungsfeldzug ausartenden Militäraktionen. Zahlreiche Menschen auch ausserhalb der Aufstandszone, selbst Familienoberhäupter in einigen Dörfern umliegender Provinzen, wurden einzig auf Grund ihrer Blutbande mit Dersimstämmen ermordet.

Für die Dersimi und mehrere umliegende mitbetroffene alevitische Dörfer blieb der Feldzug von 1938 eine unverheilte Wunde; für alle Aleviten, die sich der geschichtlichen Bedeutung Dersims für das Alevitum bewusst sind, hinterliess er einen üblen Nachgeschmack. Eine überzeugende Neuformulierung des Alevismus wird nicht um die vollständige Aufarbeitung dieser Vergangenheit, die ein zentrales Stück alevitischer und republikanischer Geschichte bildet, herumkommen.

III. Migration in die Städte (2. Hälfte des 20. Jahrhunderts)

Diese Epoche moderner ostalevitischer Geschichte handelt vom Ende der traditionellen, heimlich auch unter dem kemalistischen Einparteinregime weiter betriebenen ländlichen Alevi-Organisation. Ihr Ende fällt mit der Migration und der Protestgeneration der 1960er und 70er Jahre zusammen. Schliesslich gehört zu dieser Epoche das öffentliche Hervortreten des Alevitums unter modernen Vorzeichen im städtischen Milieu der 1990er Jahre, zeitgleich mit der kurdischen Selbstartikulation.

Bis in die 1960er Jahre war die grosse Mehrheit der ostalevitischen Dorfbewohnerinnen und -bewohner Analphabeten. Sobald eine Dorfschule bestand, schickten die meisten Familien die Kinder mit Überzeugung zur Schule und nahmen oft Entbehrungen auf sich, um ihnen auch einen Mittel- und Hochschulabschluss zu ermöglichen. Erst in den 1950er unter der Regierung von Adnan Menderes und vor allem nach der Einsetzung der relativ liberalen Verfassung von 1961 begannen die Ostaleviten in grösserer Zahl aus den Dörfern in die Provinzstädte zu ziehen, die bis dann nur von den Sunniten und bewohnt waren (vor 1915 auch von den Angehörigen der christlichen Millet). Dabei verheimlichten die Neuzuzüger vor der sunnitischen Mehrheit ihre alevitische Identität. In der Schule und am Arbeitsplatz blieb sie bis in die 1980er Jahre hinein ein Tabuthema. Die Binnenmigration geschah vor allem aus wirtschaftlichen Gründen und aus dem Wunsch, den Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Ihr Hintergrund indessen war der unerreichte gesellschaftliche Friede und die Absenz nachhaltiger Entwicklung im Herkunftsgebiet der Migranten.

Ostaleviten gehörten auch zu den ersten Anwärtern der 1961 einsetzenden organisierten Arbeitsmigration nach Deutschland. Weit geringer war die entsprechende Migration aus sunnitischen Siedlungen aus der Nachbarschaft der von mir untersuchten alevitischen Dörfer. Dies einerseits wegen der geeigneteren Lage in der fruchtbaren Talsohle (und nicht an den Berghängen), andererseits wegen der traditionellen Nähe zum Staat, der diese Dörfer begünstigte. In Malatya liessen sich die ersten Stadtaleviten nach der Jahrhundertmitte im armenischen Quartier nieder, das damals noch eine schmale armenische Bevölkerung zählte. Dies erklärt sich aus der traditionellen Nähe zu den einheimischen Christen sowie aus dem Umstand, dass in jenem Quartier Raum für Zuzüger bestand. Vermutlich trifft dieser Vorgang auch für andere Städte zu. In die Stadt Erzincan, die bis zum Ersten Weltkrieg zur Hälfte von Armeniern bewohnt war,[1] begann der Zuzug kurdischer Aleviten bezeichnenderweise, aber auch ausnahmsweise bereits anfangs des 20. Jahrhunderts.[2]

Die Erfahrungen der alevitischen Neusiedler in den Provinzstädten spielten neben der Erfahrung dörflicher Unterentwicklung und staatlicher Repression für die Politisierung der alevitischen Jugend in den 1960er und 70er Jahren eine wichtige Rolle. 1968 zum Beispiel gab es in der Stadt Elbistan Ausschreitungen gegen die alevitischen Neuzuzüger und deren neu eröffneten Läden. In Malatya und Erzincan waren die im Widerstand geübten kurdischen Aleviten anfangs der 1970er Jahre federführend in der lokalen Organisation der alevitischen Schüler und Studierenden in ihren Auseinandersetzungen mit rechtsgerichteten Jugendlichen und Behörden. Kurdisch- und türkischsprachige Aleviten solidarisierten sich gegenüber diesen Sunniten. Verbal überdeckte die linke Ideologie der revolutionären Organisationen, in welche viele Jugendliche in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eintraten, den konfessionellen Gegensatz.

Die alevitische Protestgeneration lehnte sich auf gegen die Unterentwicklung ihrer Regionen und den soziologischen Befund, nicht gleichberechtigt in die Gesellschaft integriert zu sein. Sie verknüpfte ihre Opposition gegen den Staat mit einer Absage an die alevitische Tradition ihrer Eltern, denen sie eine religiös begründete passive Duldung der sozialen Missstände vorwarf. Sie brach mit den Dedes, den Trägern der traditionellen dorfübergreifenden Alevi-Organisation, indem sie diese im Revolutionsjargon pauschal als Ignoranten und Ausbeuter apostrophierte. Ganz brach sie allerdings nicht mit dem alevitischen Erbe, sondern sie säkularisierte es: Sie interpretierte es als eine soziale Protestbewegung gegen ungerechte Machthaber.

Die politisierten Jugendlichen waren auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu revolutionären Organisationen nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 massiver staatlicher Repression ausgesetzt und mussten, soweit ihnen dies möglich war, ins Ausland fliehen. Die Auseinandersetzung des Staates mit der PKK führte von der zweiten Hälfte der 1980er Jahre an zu einer Fluchtwelle von Familien aus kurdischen und ostalevitischen Regionen, die zwischen die Fronten geraten waren. Die strategisch begründete systematische Entleerung und teilweise Zerstörung durch die Armee von mehreren tausend Dörfern, davon überproportional viele im alevitischen Tunceli (Dersim),[3] verstärkte die Fluchtbewegung aus den Ostprovinzen der Türkei in die Metropolen im Süden (Diyarbakir, Adana) und Westen (Istanbul, Izmir) oder nach Europa.

Das türkeigeschichtlich herausragende Phänomen der alevitischen Renaissance fiel nicht von ungefähr zeitlich zusammen mit der öffentlichen kurdischen Artikulation in der Türkei seit Ende der 1980er Jahre. Zweifellos ermutigte der Kampf der Kurden um kollektive Anerkennung die Aleviten zu einem identitären coming out. Im Zeichen medialer Liberalisierung behinderte der Staat diesen Prozess wenig, ja unterstützte ihn bisweilen gezielt, um die Aleviten vom Lager der militanten Kurden fernzuhalten. Zum historischen Kontext der alevitischen Renaissance gehören aber noch weitere Faktoren. Zu nennen sind die Erfahrung einer “verlorenen Generation” von Aleviten, nämlich jener 68er Protestjungend, deren sozialrevolutionärer Kampf gescheitert war. In einem Kontext, den global das Ende des Kalten Krieges und regional der blutige Guerillakampf prägten, trug dies zu einer Suche nach Identität jenseits politischer Ideologien bei und zum Rückgriff auf ein Alevitum, das die Protestgeneration zu pauschal abgewertet hatte. Als Katalysator für diesen Prozess wirkte sich der am 2. Juli 1993 in Sivas von einem islamistischen Pöbel verübte Massenmord an alevitischen Künstlern aus.

Für eine geschichtsbewusste und kreative Neubelebung

Es ist an den Alevitinnen und Aleviten bei ihrer identitären Neuartikulation kreativ umzugehen mit ihrer an Brauchtum und Liedgut reichen Vergangenheit. Als aussenstehender Historiker halte ich es indes für wichtig, nicht einem vermeintlichen Aufholbedarf gegenüber den etablierten und verschriftlichten Religionen zu erliegen. Den alevitischen Glauben auszuformulieren, ist ein nach innen und aussen legitimes Anliegen mit Relevanz für Erziehung, Schule und Zivilgesellschaft in Europa und der Türkei. Aber darüber hinaus besteht bei diesem renouveau gerade die Chance, über das Geldendmachen konfessioneller Rechte und die Teilhabe an öffentlichen Geldern hinaus alte Ressourcen für den interreligiösen Dialog zu mobilisieren. Es ist methodischer Zweifel angebracht, wenn es darum geht, das Alevitum aus den Bektaschi-Legenden des 16. Jahrhunderts heraus zu rekonstruieren. Der Gründungskontext des anatolischen Alevitums ist das hochmittelalterliche Kleinasien. Das ursprüngliche Alevitum hat die Früchte einer sowohl pragmatischen als auch spirituellen Begegnungskultur verinnerlicht, als in Kleinasien weder eine christliche noch eine islamische Orthodoxie dominierte. Religiöse Versöhnung blieb zwar auf die spirituelle Ebene oder lokale Mikrokosmen relegiert. Makrohistorisch war sie angesichts von Kreuzzügen, Dschihad und religiöser Machtbegründung eine Utopie. Aber viel von jener utopischen Kraft ist im Alevitum erhalten geblieben und hat heute Zukunft. Insbesondere gilt es dabei, das Ostalevitum gebührend zu berücksichtigen, welches im Gegensatz zum Westalevitum vom Arrangement der Bektaschiye mit der sunnitischen Staatsmacht im 16. Jahrhundert nicht betroffen war.

Meines Erachtens hat ein aufgewecktes Alevitum als Faktor von Zivilgesellschaft ein bedeutendes Wort mitzureden bei den Herausforderungen, welche die Gegenwart in Europa und der Türkei stellt. Zu nennen sind der interreligiöse Dialog, die geschichtliche Aufarbeitung und interethnische Versöhnung, die Mobilisierung pluralistischer Ressourcen und der Wiederaufbau in den Ostprovinzen der Türkei.

Anhang: Zeitliche und begriffliche Übersicht

VORMODERNE ALEVITISCHE GESCHICHTE (12.-18. JH.):

I. 12.-14. JAHRHUNDERT: Genese des Alevitums

– Genese des anatolischen Alevitums in einem religiös und politisch multipolaren Kleinasien.

II. 15./16. JAHRHUNDERT: Repression; Trennung zwischen West- und Ostalevitum

– Schiitisierung der Aleviten (safawidischer Einfluss).

– Sunnitisierung des osmanischen Staates und osmanischer Sieg über die Safawiden (1515).

– Domestizierung der Westaleviten durch die Bektaschiye.

– Organisatorische Trennung von West- und Ostaleviten

III. 17.- ERSTES DRITTEL 19. JAHRHUNDERT: Prekärer Modus vivendi

– Die beiden Alevi-Organisationen etablieren sich getrennt.

– Der osmanisch-persische Konflikt flaut ab.

– Vom Dersim als der alevitischen Hauptzuflucht wandern auf Grund des Bevölkerungsdruckes Stämme in die Nachbarregionen aus

– Das Bündnis mit dem Staat endet für die Bektaschiye mit deren Verbot 1826.

MODERNE OSTALEVITISCHE GESCHICHTE

I. 2. HäLFTE 19. JAHRHUNDERT: Begegnung mit der Moderne.

II. 1. HäLFTE DES 20. JAHRHUNDERT: Ära der Jungtürken. Instrumentalisierung und Abschaffung der Religion durch das Einparteienregime; Ethnozid im Dersim (1938).

III. 2. HäLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS: Migration in die Städte. Ende des traditionellen gemeinschaftsinternen Alevitums; Artikulation eines öffentlichen Alevismus.

HAUPTUNTERSCHIEDE ZWISCHEN WEST- UND OSTALEVITUM:

Beide Zweige teilen zentrale alevitische Elemente wie cem (Versammlung mit Gottesdienst), musahiplik (verbindliche Wahlverwandtschaft), görgü (Rechenschaft und Gericht).

– Westalevitum: Im Einflussbereich der Bektaschi-Organisation und damit des Staates; Vorrang des Türkischen in Alltag und Kult.

– Ostalevitum: Im Einflussbereich der Seyit-Organisation des autonomen Dersims; Zweitrangigkeit des Türkischen (cem auch zaza- oder kurmandschsprachig); intensivere interreligiöse Praxis (gemeinsame heilige Orte, gemeinsames galan-Fest, bisweilen christliche kirve).

Vortrag gehalten am 6. September 2001 anlässlich des achten wissenschaftlichen Kongresses der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient für gegenwartsbezogene Forschung und Dokumentation (DAVO).

Quelle: hist.net

[1] Vgl. Kévorkian, Raymond H., und Paboudjian, Paul B., Les Arméniens dans l’Empire ottoman à la veille du génocide, Paris: ARHIS, 1992, S. 454; Cuinet, Vital, La Turquie d’Asie, Paris, 1892, Bd. 1, S. 211. Auch in der Stadt Sivas gab es vor dem Ersten Weltkrieg eine sehr begrenzte Anzahl von Aleviten.

[2] Dersimi, Mehmet Nuri, Hatiratim, Stockholm: Roja Nû Yayinlari, 1986, S. 73.

[3] Siehe Zwangsräumung und Zerstörung von Dörfern in Dersim (Tunceli) und im westlichen Teil von Bingöl, Türkisch Kurdistan, im September-November 1994, Amsterdam: Netherland Kurdistan Society, 1995.