Rede von Wolfgang Gust auf der Gedenkfeier in der Paulskirche am 24. April 2009

Euer Eminenz, Exzellenzen, Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe armenische Freunde.

Ich möchte Ihnen sehr herzlich für die Einladung danken, gerade an diesem Ort zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Der 24. April ist für Sie, die Armenier und Deutsch-Armenier unter Ihnen, der wohl schmerzhafteste Tag in der Geschichte Ihres Volkes, denn am 24. April 1915 wurde die armenische Elite im damaligen Osmanischen Reichs ausgelöscht. Dieser Tag ist heute ein Symbol für den ersten Völkermord auf europäischem Boden in der Neuzeit. Wir gedenken dieses furchtbaren Ereignisses hier in der Frankfurter Paulskirche, einem symbolträchtigen Ort der deutschen Geschichte. Denn hier begann und endete der einzige Versuch des deutschen Volkes, aus eigener Kraft eine moderne Demokratie aufzubauen und Freiheitsrechte für alle Bürger zu garantieren.

Das historische Scheitern der deutschen Demokraten in den Jahren 1848 bis 1851 und die Vernichtung des armenischen Volkes in der Türkei 1915 und 1916 stehen in einem direkten Zusammenhang: Weder mit einem Bündnispartner der Entente noch mit einem Deutschland, wie es 1848 geplant war und wir es heute haben, hätte der Völkermord an den Armeniern stattfinden können. Und ohne potenten Bündnispartner wäre das Osmanische Reich mit diesem barbarischen Schritt höchste Gefahr gelaufen, annektiert und aufgeteilt zu werden. Die Pläne dafür lagen in den Schubläden der Großmächte. Nur mit dem autoritären deutschen Kaiserreich als militärischem Garanten konnte das jungtürkische Regime im ersten Weltkrieg den Genozid wagen.

Nach dem Studium von Tausenden deutscher Dokumente zu diesem Thema ist für mich ganz eindeutig, daß der Völkermord an den Armeniern ein genuin türkischer Völkermord war. Das deutsche Kaiserreich als Staat hat ihn nicht angeregt oder gar geplant, auch wenn einzelne Deutsche ihn befürwortet, vielleicht sogar gefordert, zumindest aber gefördert haben. Aber Deutschland als Nation hat eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Die deutsche Mitverantwortung ist heute mein Thema und die Frage, ob Deutschland die Armenier hätte retten können.

Daß Deutsche in verantwortlicher Position Armenier retten konnten, zeigte der Fall Smyrna, wo ein deutscher General das Sagen hatte und die Deportation der Armenier verhinderte. Gab es noch andere Möglichkeiten, Armenier zu retten? Ich behaupte: Ja. Nur ist es gar nicht versucht worden. Und deshalb ist es wichtig zu untersuchen, was falsch gelaufen ist auf deutscher Seite. Und dazu ist wichtig zu wissen: Wer wußte in Deutschland von diesem Völkermord und wann erfuhr er davon.

Die Deportationen der Armenier hat die damalige türkische Regierung – und die heutige tut es immer noch – mit militärischen Gefahren begründet, die von bewaffneten armenischen Revolutionären ausgingen, besonders in den Frontgebieten zu Rußland. Mit dieser Begründung haben auch die deutschen Verantwortlichen ihre Unterstützung für das türkische Vorgehen begründet. Um so überraschter war ich, als ich mir die militärischen Teile der Berichte des deutschen Auswärtigen Amts an das Große Hauptquartier genauer ansah. Das Große Hauptquartier war die eigentliche Zentrale während des Krieges. Ihm gehörte der Kaiser als oberster Kriegsherr an, der Kanzler, die Oberste Heeresleitung, viele weitere Stäbe bis zu den Verbindungsoffizieren zu den befreundeten Mächten, also auch Türken und immer ein hoher Vertreter des Auswärtigen Amts, das über die Ereignisse in der Türkei am besten informiert war, insgesamt an die tausend Personen.

In diesen Berichten war folglich gebündelt, was das Auswärtige Amt als wichtig ansah. Das Erstaunliche war, daß in dieser Top-Auswahl militärische Aufstände von Armeniern oder auch nur die Gefahr solcher Aufstände während des gesamten Völkermordgeschehens 1915 und 1916 überhaupt nicht vorkamen. Hingegen wird von Übergriffen türkischer Trupps jenseits der russischen Grenze berichtet, sogar von der Eroberung der russischen Stadt Batum durch türkische Freischärler. Militärisch-revolutionäre Aktionen registrierten die Deutschen also nur bei den Türken. Nach Auffassung des deutschen Auswärtigen Amts gab es also ganz offensichtlich gar keinen Grund für die Deportationen.

Der Völkermord an den Armeniern war in den ersten Jahren nicht ein einziges Mal Thema irgendeiner Meldung des Auswärtigen Amts an das Große Hauptquartier. Ich kann mich nur auf diese Berichte berufen, denn die meisten militärischen Reports sind zum Ende des Zweien Weltkriegs in Potsdam einem Bombenangriff zum Opfer gefallen. Selbst von den militärischen Ereignissen in diesen Dokumenten des Auswärtigen Amts, die fast alle Berichte an diese Machtzentrale dominierten, kamen in den Jahren 1915 und 1916 die kriegerischen Vorkommnisse in der Türkei nie zur Sprache, mit einer Ausnahme, das waren die Dardanellenkämpfe. Kein Wort über die große Niederlage Envers im Feldzug gegen Rußland im Frühjahr 1915, die einige Historiker als Auslöser sehen wollen für den Völkermord an den Armeniern. Die wichtigsten dieser Berichte werde ich in absehbarer Zeit veröffentlichen.

Das sehr mutige Eintreten eines Johannes Lepsius für die Armenier versperrt bis heute den Blick auf die generelle Haltung der Deutschen gegenüber den Armeniern. Diese Haltung war geprägt durch Mißachtung und oft schlichte Verachtung für die Armenier, die fast immer vor allem als gierige Händler beschrieben wurden. Das fing mit Bismarck an, der behauptete, „daß ein Armenier überhaupt kaum etwas tut, ohne pekuniären Gewinn“. Saurma von der Jeltsch, seit 1895 Botschafter in Konstantinopel und immerhin Mediator im Konflikt um die Armenierhochburg Zeitun, behauptete: „Dankbarkeit kennt der Armenier nicht. Er betrachtet die Lage lediglich vom Standpunkte einer für sich möglichst gewinnbringenden Art“. Diese Sicht ist uns bestens von den Antisemiten bekannt, und mit den Juden wurden die Armenier auch immer verglichen mit der Tendenz, sie seien noch viel schlimmer. Aber nicht nur in der Geschäftstüchtigkeit der Armenier sahen die Deutschen einen Makel. Marschall von Bieberstein, sieben Jahre lang Staatssekretär im Auswärtigen Amt, also Außenminister, dann eine Art Überbotschafter in Konstantinopel, wollte im April 1909, als es in Adana einen regionalen Völkermord an den Armeniern gab, von den Massakern schlicht nichts wissen. Als sein für Adana zuständiger Konsul Christmann ihm die Details schilderte, hielt er alles nur für „Klatsch und Tratsch“, wie er es nannte, dem man schon deshalb nicht glauben könne, weil die Berichte von Armeniern stammten, denn, so Marschall, „die Armenier gehören zu den verlogensten Nationalitäten, die es überhaupt gibt.“ Nachzulesen in einer Dokumentation über Adana 1909, die ich vor wenigen Tagen ins Internet gestellt habe.

Marschalls Nachfolger in Konstantinopel Hans Freiherr von Wangenheim war dann der erste deutsche Botschafter, der vorsichtig versuchte, die Armenier in der einen oder anderen Form für Deutschland zu gewinnen und ihnen einen gewissen Schutz zu gewähren. Auch er hackte auf den Geschäftsleuten herum, hatte aber vor allem die armenischen Bauern und Handwerker entdeckt – und sicherlich einen Hintergedanken. Die tüchtigen Armenier siedelten im Südosten der Türkei, genau in jenem Landstrich, für den sich die Deutschen besonders interessierten und den sie ihr „Arbeitsgebiet“ nannten, sprich eine mögliche Kolonie, sollte die Türkei zusammenbrechen. Aber Außenamtschef Gottlieb von Jagow blockte Wangenheims Pläne sofort ab, um nicht das gute Verhältnis zur Türkei zu torpedieren. Fortan galt der von uns vor einiger Zeit erstmals publizierte Ausspruch des Kanzlers Bethmann Hollweg: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“

Ich habe in mehreren Artikeln und auch in Vorträgen die Mitschuld Deutschlands an dem Völkermord beschrieben und auch die Akteure benannt. Das will ich hier nicht wiederholen. Aber mich hat natürlich früh interessiert, woher diese Verachtung für die Armenier kommt, obgleich nur wenige Deutsche überhaupt Armenier kannten. Ich glaube, einer der entscheidenden Faktoren dafür war, daß die Armenier ausgesprochen westlich eingestellt waren, viele von ihnen studierten in den USA, England oder Frankreich. Und im Osmanischen Reich waren die Armenier Lieblingsschüler amerikanischer Missionare mit ihren hervorragenden Lehranstalten. Dort erlernten sie die Ideale von Demokratie und Freiheit, was immer wieder auf Kritik deutscher Diplomaten stieß. Wenn der Armenierspezialist in Konstantinopel, Johannes Mordtmann, vom „ultrademokratischen Geist, der von jeher unter den gregorianischen Armeniern geherrscht hatte“ sprach, dann war das aus deutschem Mund nicht ein Lob, sondern der größtmögliche Tadel.

Denn Deutschland war nach dem Scheitern der Demokratiebewegung hier in Frankfurt immer weiter vom Westen abgerückt und hatte eine eigene Kultur entwickelt, die in striktem Gegensatz zur westlichen Zivilisation stand, gegen die selbst ein Nobelpreisträger Thomas Mann noch im Ersten Weltkrieg vehement anging. Ein deutsches Reich, so groß es auch war, machte immer nur einen Teil der deutschsprechenden Welt aus und mußte nicht – wie Großbritannien oder Frankreich oder auch Amerika – einen Wertekanon entwickeln, auf den sich auch die unterworfenen oder einwandernden Völker verständigen konnten, um zu einer Nation zusammenzuwachsen. Das Deutschland um die Jahrhundertwende verstand sich zunehmend als Volksgemeinschaft mit eher diffusen Werten, die zum Ersten Weltkrieg hin in den sogenannten „Ideen von 1914“ des vielgelesenen schwedischen Staatsrechtlers Rudolf Kjellén ihren Höhepunkt fanden. „Die deutsche Kultur hat sich während der vorausliegenden Jahrhunderte mehr und mehr von den geistigen Traditionen des Abendlandes isoliert“, schreibt der Skandinavist Klaus von See, der die Entwicklung Deutschlands zu einem völkischen Staat am präzisesten beschrieben hat, während die anderen Nationen, so Klaus von See, „nichts weiter zu tun brauchen, als sich mit den naturrechtlich-aufklärerischen Demokratie-Definitionen zu identifizieren, die andernorts längst Allgemeingut geworden sind – mit den Ideen von 1789.“ Diesen französischen Idealen fühlten sich auch die Armenier verpflichtet, die sie eine Zeitlang sogar zusammen mit den Jungtürken zu verwirklichen hofften, bis diese auf den deutschen Holzweg umschwenkten.

Einen Johannes Lepsius heute als „Urvater der Menschenrechte“ zu bezeichnen, wie das getan wird, zeigt das ganze Unverständnis für historische Entwicklungen bei einigen unserer Zeitgenossen. Denn das Wort „Menschenrechte“ kommt weder bei Lepsius noch in der deutschen diplomatischen Korrespondenz des Ersten Weltkriegs überhaupt vor, weil es als eine französische Spezialität galt, praktisch als etwas Abartiges. Als die Entente im Mai 1915 erstmals von dem Völkermord als „crimes against humanity“ sprach, konnten die Deutschen diesen Begriff gar nicht übersetzen. Sie sprachen nicht, wie es korrekt gewesen wäre – und heute von der UNO festgelegt ist – von „Verbrechen gegen die Menschheit“, sondern – wie das noch heute geschieht – allenfalls von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Das schwammige Wort „Menschlichkeit“ war denn auch das einzige, das in diesem Zusammenhang in der deutschen diplomatischen Korrespondenz vorkommt. „Menschlichkeit“ war eine Gefühlsäußerung, die oft im Zusammenhang mit den geschundenen Armeniern fiel, verpflichtete aber im Gegensatz zu „Menschenrechten“ zu absolut nichts.

Zu Anfang des Krieges war Johannes Lepsius von der deutschen Regierung die Aufgabe zugedacht, „seine“ Armenier zu besänftigen. Er sollte sicherstellen, daß sich die Armenier des Osmanischen Reichs friedlich verhalten. Aber Lepsius stand 1915 für diese Beschwichtigungsmission nur kurze Zeit zur Verfügung. Als er die Ausweglosigkeit eines Stops der Deportationen in Konstantinopel aus dem Mund von Kriegsminister Enver erfuhr, zog er sich aus der deutschen Rechtfertigungslinie zurück und geißelte fortan publizistisch den Völkermord.

Nun gab es aber in Deutschland neben den alles beherrschenden Militärs durchaus noch Personen oder gesellschaftliche Kräfte, die Macht genug hatten, den Völkermord an den Armeniern zu stoppen oder doch zumindest deren katastrophale Lage erheblich zu mildern. Eine solche Person war zum Beispiel der Kaiser, eine solche Organisation war insbesondere die Kirche.

Der Kaiser war den Armeniern gegenüber sehr wankelmütig. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beschimpfte er sie mal, mal bedauerte er sie und polterte über die Täter. Im Laufe des Krieges verabschiedete sich der Kaiser zwar immer mehr von der politischen Bühne, aber er war immerhin oberster Kriegsherr und vor allem preußischer König, worauf er viel größeren Wert legte als auf den Titel Kaiser. Wichtige noch ist: ihm persönlich unterstand die deutsche Militärmission in der Türkei. Und dort dominierten preußische Offiziere. Sich einem eindeutigen Befehl des obersten Chefs zu entziehen, war für einen preußischen Offizier kaum vorstellbar.

Es gibt ein hoch interessantes Beispiel für die Möglichkeiten des Kaisers, besonders zu Beginn des Krieges, in den ja auch die endgültige Entscheidung für den Völkermord fiel. Die Türkei hatte nach den Balkankriegen ein großes Bedürfnis, sich den Mittelmächten anzuschließen, natürlich nicht Italien, mit dem sie Krieg führte, aber Österreich-Ungarn und vor allen Deutschland. Triebfeder war Kriegsminister Enver, der als ehemaliger Militärattaché in Berlin der deutschfreundlichste unter den führenden Jungtürken war. Je näher der Beginn des Ersten Weltkriegs rückte, desto mehr biederte sich die Türkei an und suchte den Schulterschluß mit dem deutschen Kaiserreich. Schließlich bot sie an, ein Viertel der türkischen Armee direkt deutschem Kommando zu unterstellen. Aber ihr Werben stieß auf wenig Gegenliebe. Botschafter Wangenheim riet ab, weil Deutschland nur draufzahlen würde, Außenamtschef Jagow fand keinen Gefallen an dem Vorschlag und auch Kanzler Bethmann Hollweg war nicht für ein Bündnis zu haben. Da spielte Enver seine letzte Karte aus und sie stach. Er bot Deutschland nicht nur den Befehl über ein Viertel der türkischen Armee an, sondern akzeptierte, daß die gesamte türkische Armee deutschem Oberkommando unterstellt würde. Der Kaiser, auch er zuvor zurückhaltend, fiel um – das tat er des öfteren – und befahl seinem Botschafter in Konstantinopel, das Angebot zu akzeptieren. Wangenheim parierte.

Dann jedoch zeigten die Türken, daß sie den Deutschen zwar nicht militärisch, aber in Punkto Raffinesse haushoch überlegen waren. Sie zogen Wangenheim in der Schlußverhandlung regelrecht über den Tisch. Schließlich unterzeichnete der deutsche Botschafter einen Vertragstext, der deutschen Militärs zwar ein erhebliches Mitspracherecht zuerkannte, die Befehlsstruktur aber praktisch nicht änderte. Nominell blieb der Sultan oberster Befehlshaber, real war es Kriegsminister Enver und mit ihm eine Gruppe deutscher Generäle und Admiräle, die extrem gegen die Armenier eingestellt waren, wie der Schweizer Historiker Christoph Dinkel sehr gut herausgearbeitet hat. Diese Offiziersclique um Enver unternahm alles, um den nominellen Chef der deutschen Militärmission, Otto Liman von Sanders kaltzustellen

Und diese Kamarilla unterstützte den Völkermord an den Armeniern, von dem der Kaiser praktisch nichts erfuhr. Die Kunde von den grauenhaften Vorgängen in der Türkei erreichte zwar den Chef des kaiserlichen Militärkabinetts Moritz Freiherr von Lyncker, der seiner Frau schrieb: „Ganz entsetzlich ist es, wie die Türken gegen die christlichen Armenier, ihre eigenen Unterthanen, wüthen. – Männer, Weiber, Kinder werden hingeschlachtet oder absichtlich dem Hungertode preisgegeben. Unsere Diplomatie scheint in diesem Punkt machtlos zu sein.“ Die Diplomatie war machtlos, weil sie machtlos sein wollte, und Lyncker war es auch. Denn er sprach täglich mit dem Kaiser, spielte immer wieder stundenlang Skat mit ihm, über das Schicksal der Armenier aber wechselte er kein Wort mit ihm.

Wenn das der Kaiser wüßte, schrieben deutsche Missionarinnen in ihren verzweifelten Berichten über die Greuel an den Armeniern. Ein einziger Befehl des Kaisers hätte in der Tat viele Armenier retten können. Wilhelm II hätte sicherlich nicht befohlen, die Deportationen zu stoppen, denn die Deutschen hatten in Belgien und Frankreich selbst Zehntausende von Zivilisten deportiert. Wenn sogar ein Johannes Lepsius die Deportationen seiner Armenier aus militärischen Gründen für unbedenklich hielt, wie hätte der von ihm bewunderte Kaiser da anders entscheiden sollen. Aber Deportationen mußten nicht automatisch ein Todesurteil sein. Hätte der Kaiser das Hinmorden der Armenier per Befehl untersagt, hätten viele überlebt, selbst in den Todeszonen am Euphrat. Es gibt ein deutsches Dokument, das belegt, wie die Armenier dort mit ihrem sprichwörtlichen Arbeitseifer innerhalb kürzester Zeit einen heruntergekommenen Ort aufbauten, um dort zu leben. Und die Euphratebene bot reichlich bewässerbares Land, um dort bis Kriegsende durchzustehen. Außerdem waren Kilikien und das Euphrattal für Kaiser und Kanzler das für eine deutsche Besitznahme auserkorene Land, wenn die Türkei zusammenbrechen sollte, wovon beispielsweise Außenamtschef Gottlieb von Jagow ausging. Es gab also gute Argumente, dem Kaiser einen Überlebensbefehl schmackhaft zu machen. Und es gab mit den Oberhofpredigern, einer Art protestantischer Beichtväter, Geistliche in seiner unmittelbaren Nähe, die durch eigene Quellen oder durch Lepsius bestens informiert waren. Der Kaiser war schließlich nicht nur ein gläubiger Christ, sondern auch ihr oberster Bischof.

Doch der Kaiser war nur einer von denen, der Armenier hätte retten können. Es gab noch andere mächtige, weil wirksamere Institution – die deutschen Kirchen. Der oberste Katholik unter den Politikern, Matthias Erzberger, war häufiger in der Türkei, und verfaßte Berichte, wie den Armeniern zu helfen sei. Allerdings waren sein Vorschläge ziemlich naiv. Immerhin: Durch ihn war die katholische Kirche in Deutschland informiert. Und was tat sie? Nichts.

Noch bedeutsamer war das Verhalten der evangelischen Kirche. Ihre Hilfswerke in der Türkei taten alles, um das Leid der Armenier zu mildern. Und sie berichteten sehr genau über den Völkermord, wie auch Lepsius in Geheimtreffen seine evangelischen Brüder sehr genau informiert hatte. Aber was taten die obersten deutschen Protestanten? Nichts.

Sie schrieben eine gemeinsame Resolution an den Kanzler, von dem sie genau wußten, welche Politik er gegenüber den Armeniern betrieb. Diese allein durch die Masse und Qualität ihrer Unterzeichner beachtliche Denkschrift wurde zur Botschaft in Konstantinopel weitergeleitet und führte dazu, daß Deutschlands höchste Vertreter in der Türkei darum bettelten, doch die armenischen Katholiken und vor allem die armenischen Protestanten zu schonen, weil die doch besonders staatshörig und deshalb jeder Revolution abhold seien. Mit anderen Worten: den gregorianischen Armeniern war nach Ansicht der deutschen Protestanten nicht recht zu trauen. Die für den Völkermord verantwortlichen türkischen Offiziellen werden sich die Hände gerieben haben, wegen dieser ziemlich unerwarteten Unterstützung. Geholfen hat es den katholischen und protestantischen Armenier übrigens nicht im geringsten, sie wurde genauso umgebracht wie ihre armenisch-apostolischen Glaubensbrüder.

Wenn es nur die Zensur nicht gegeben hätte, war eine Klage, die nach dem Krieg oft zu hören war, von Lepsius aber auch von den Kirchen. Lepsius hatte seinen berühmten Bericht über die Lage der Armenier in der Türkei 1916 verfaßt. Es war das Beste, was bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt über den Völkermord geschrieben worden war. Lepsius ließ trotz des Widertands einiger seiner engsten Mitarbeiter 20000 Exemplare davon drucken. Etwa 500 schickte er an die wichtigsten Politiker in Deutschland. Sie wurden von der Zensur aus dem Verkehr gezogen. Die übrigen Exemplare waren für die protestantischen Pfarrstellen gedacht. Waschkörbeweise brachten Lepsius sowie seine Familienmitglieder und Freunde die vielen Päckchen zur Post. Diese Exemplare ließen die Zensoren praktisch alle durch.

Als die deutsche Regierung auf Anfrage der türkischen Botschaft in Berlin sich über den Versandt beschwerte, antwortete das Auswärtige Amt, der Versand sei verboten worden, was formal stimmte. Aber „fast alle Exemplare waren abgeschickt“, wie auch der Kirchenhistoriker Uwe Feigel in seinem Buch über das evangelische Deutschland und Armenien feststellte. Wäre nur von jeder zehnten Kanzel die Botschaft von Lepsius in kurzen aber eindringlichen Worten verkündet worden, dann wäre die wichtigste politische Kraft in Deutschland, die westliche Werte akzeptiert hatte, die Sozialdemokraten, alarmiert worden – und damit sehr viele Deutsche. Nicht die böse preußische Zensur verhinderte also die Verbreitung der Wahrheit über den Genozid noch während des Krieges, sondern die gute protestantische Kirche. „Jedes deutsche Pfarramt müßte im Besitz meines Berichtes sein“, schrieb Lepsius selbst dazu, „wenn die Superintendenten und Vertrauensmänner, denen die Pakete zugingen, ihre Schuldigkeit getan hätten.“

Genau das hatten sie nicht getan. Denn zu viele der protestantischen Kirchenoberen arbeiteten eng mit der Regierung zusammen. Der Schatzmeister der Evangelischen Missionshilfe Friedrich Robert Faber, Verleger der Magdeburgischen Zeitung – der ältesten Zeitung Deutschlands – und gleichzeitig Vorsitzender des Vereins deutscher Zeitungsverleger bot sogar seine Dienste an, kritische Journalisten zum Schweigen zu bringen. Johannes Lepsius wußte ganz genau, wer sein wichtigstes Anliegen, die Armenier zu retten, hintertrieben hatte. „So konnte es kommen“, schrieb er gleich nach Kriegsende an seinen besten Freund, den Theologen Albert Weckesser, mit dem er zusammen studiert hatte, „dass in Deutschland die evangelische Kirche während des Krieges vollständig in den nationalistischen Schwindel hineingerissen wurde und moralisch bankerott machte“.

Bei der protestantischen Kirche ist heute das Thema „Völkermord an den Armeniern“ erneut gelandet. Alle Gelder des Bundestags für die Aufarbeitung des Völkermords, wenig genug bei der Höhe der begangenen Verbrechen, aber immerhin 100000 Euro im Jahr, gehen dank einer geschickten Lobbyarbeit ins von der protestantischen Kirche betriebene Lepsiushaus in Potsdam. In diesen Zusammenhang interessiert Sie vielleicht eine Äußerung, die ich heute, am 24. April 2009, in der „Süddeutschen Zeitung“ fand und die zeigt, wie aktuell das Thema ist: „Die Kirche verhält sich wie ein Konzern. Sie wirbt Gelder ein, um ihre Interessen durchzusetzen. Das ist furchtbar“.

Das sagte nicht ein Kirchenhasser, sondern die Berliner protestantische Pfarrerin Constanze Kraft. Für sie geht es um die Abschaffung des Ethikunterrichts, der in der Praxis ein Demokratieunterricht ist, den gerade wir in Deutschland immer noch sehr nötig haben. Sie ist mit Sicherheit eine gläubige Protestantin, so wie Lepsius ein gläubiger Protestant war und ich es auch bin. Im Lepsiushaus kann aus vielen Gründen die deutsche Rolle beim Völkermord gar nicht aufgearbeitet werden, weil Lepsius das nie als seine Aufgabe angesehen hat. Und auch die Aufarbeitung des Völkermords selbst findet dort nicht statt. Das Lepsiusarchiv enthält nichts mehr, was den Völkermord erhellen kann, denn Lepsius hat – das war schließlich sein Hauptanliegen – alles veröffentlicht, was zur Aufklärung des Genozids beitragen konnte.

Lepsius war „ein Kind seiner Zeit“, wie sein heutiger Mentor richtig schreibt, er war – wie praktisch die gesamte deutsche Elite – zutiefst konservativ, mit dem damals bereits üblichen Schuß Antisemitismus und einer gehörigen Demokratiefeindlichkeit. Anders als sein Mitstreiter für die armenische Sache – Armin T. Wegner – war er sehr kaiserfromm und rutschte zu seinem Lebensende immer weiter nach rechts. Was aber die Armenier betrifft, spielte Lepsius für die deutsche Regierung eine ganz andere Rolle – nämlich die eines begehrten Feigenblatts.

Er diente dem Auswärtigen Amt als Feigenblatt, als er versuchen sollte, die Armenier in der Türkei dazu zu bringen, keinerlei Widerstand zu leisten, sich also ihrem Schicksal zu fügen. Nach Kriegsende diente er dem Amt erneut als Feigenblatt, als er seinen guten Namen dafür hergab, manipulierte deutsche Dokumente über den Völkermord herauszugeben, in denen die deutsche Mitverantwortung weitgehend vertuscht wurde. Ihm war das übrigens durchaus bewußt. „Ich sehe auch jetzt noch uns als mitschuldig für den größten Christenmord aller Zeiten an“, schrieb er Anfang 1920 an seinen Vetter Paul Vigand. Und heute dient sein Name wieder als Feigenblatt. Johannes Lepsius wäre höchst unglücklich, wenn er sähe, daß sein Haus die Stätte eines völlig unprotestantischen Heiligenkults geworden ist.

Als ich vor 20 Jahren anfing, über den Völkermord zu publizieren, klagten viele Armenier aus der Republik über die Arroganz der deutschen Diplomaten ihnen gegenüber. Das ist heute offenbar ganz anders und die Bundesrepublik steht in Europa an der Spitze der Geberstaaten für Armenien. Sicher spielte das schlechte Gewissen gegenüber den Armeniern dabei eine wichtige Rolle. Dieses schlechte Gewissen hat seinen Ursprung in der Aufarbeitung der deutschen Mitverantwortung, die nicht von den Verwaltern des Lepsius-Nachlasses geleistet worden ist. Für sie geht es vor allem darum, Johannes Lepsius als Ikone zu pflegen. Um das ganz klar zu sagen: Lepsius hat sehr große Ehren verdient und ich bin der letzte, der sie ihm versagt. Den Heiligenschein, der ihm heute verpaßt wird, hätte er mit Sicherheit abgelehnt.

Neben der Erforschung des Genozids selbst geht es heute um ein politisches Problem: Für Sie, die Armenier, steht die Anerkennung des Völkermords durch Regierungen und Parlamente im Vordergrund und das kann ich nach fast einem Jahrhundert der Mißachtung dieses Megaverbrechens sehr gut verstehen. Dabei ist die Frage der Authentizität des Genozids für die Historiker längst entschieden, denn die Leugner werden in der wissenschaftlichen Community überhaupt nicht mehr ernst genommen, das muß sogar den führenden türkischen Politikern klar sein und ist es wohl auch. Gerade heute steht eine Entscheidung an, die Taner Akcam glänzend formulierte hat. Es gehe darum, ob sich die Amerikaner weiterhin an 364 Tagen im Jahr zur Wahrheit bekennen und an einem Tag – dem heutigen – lügen. Das gilt aber noch viel mehr für uns Deutsche.

Der Bundestag hat eine Deklaration veröffentlicht, die sich in Teilen gut liest, aber das Wort Völkermord an den Armeniern ausklammert. Die deutsche Mitverantwortung kann nicht mit einer Entschuldigung abgetan werden, sie muß aufgearbeitet werden, mühsam und gründlich, wie das beim Holocaust – wenn auch mit zwei Jahrzehnten Verzögerung und anfangs oft halbherzig – geschehen ist. Um die Mitverantwortung kümmern sich in Deutschland in erster Linie engagierte Privatpersonen mit einem Null-Budget, mit Null-Lobby und entsprechend spärlichen Ergebnissen. Durch eine schwere Krankheit meiner Frau mußte ich fünf Jahre lang untätig sein. Was aber ist in diesen Jahren in Punkto Veröffentlichung deutscher Dokumente, die allein unsere Mitverantwortung aufdecken können, geschehen: Nichts.

Die Erforschung eines Genozids und im Fall des Völkermords auch die der deutschen Rolle muß professionell vonstatten gehen. Sie gehört ganz eindeutig in die Geschichtsfakultät einer deutschen Universität. Und dabei kann es sehr hilfreich sein, wenn dort eine Doktorandenstelle finanziert werden kann. Aber das müssen wir Deutsche tun. Die Gelder des Bundestags für Forschungszwecke müssen der armenischen Gemeinde zugute kommen. Sie, die Armenier, sind die Leidtragenden des Völkermords, Sie haben ein primäres Interesse daran, daß Deutschlands Rolle aufgeklärt wird. Oder auch daß gerettet wird, was noch zu retten ist.

Um ein Beispiel zu nennen. In der Zeit meiner erzwungenen Untätigkeit machte die Firma Holzmann pleite. Es war jene Firma, die einst die Bagdadbahn baute, mit Tausenden von armenischen Arbeitern und einer Fülle wertvollster Unterlagen über sie. Hätte es eine Stelle in Deutschland gegeben, die sich professionell um das Schicksal der Armenier kümmerte, hätte sie alles in Bewegung gesetzt, um dieses wertvolle Archiv zu retten. Ein anderes Beispiel: Die Deutsche Bank mit ihren bedeutenden Unterlagen über den Völkermord verweigert mir bis heute den Zugang zu ihren Archiven, mit dem seltsamen Argument, daß ich für die Armenier arbeite. In deutschen staatlichen und privaten Archiven schlummern höchst interessante Dokumente, die aufgearbeitet werden müssen, weil sie sonst ebenfalls verschwinden könnten oder vergessen werden. Es gibt viele junge Armenierinnen und Armenier hier, die etwas tun möchten, die Antworten auf viele Fragen zur deutschen Haltung erwarten, aber es gibt kein Gremium, das ihre Neugier sinnvoll bündelt.

In den Dokumenten zu den Armeniermassakern in Adana 1909, die ich zum 100. Jahrestag vor gut einer Woche veröffentlicht habe, berichten ausländische Augenzeugen davon, daß die Armenier in Adana militärisch sogar siegen konnten, sich zumindest aber in ihren soliden Steinhäusern erfolgreich und lange hätten verteidigen können, bis ausländische Hilfe gekommen wäre. Aber ihr ausgeprägter Individualismus verhinderte die notwendige Organisation. Geradezu fassungslos sahen die ausländischen Zeugen, daß sich die verfolgten Armenier mit der Waffe in der Hand abschlachten ließen, ohne sich zu wehren. So viel zu dem Klischee von den gefährlichen und revolutionären Armeniern. Ich wünschte mir, daß sich die Armenier wehren und Ihre beste Waffe ist das Wort.

Sie leben auch bei uns in einer Situation, die viele von Ihnen als bedrohlich empfinden werden, weil Sie einer 60 bis 80fachen Minderheit gegenüberstehen, die Ihnen nach wie vor feindlich gesinnt ist. Ich kann deshalb Ihren Reflex verstehen, sich manchmal so unsichtbar wie möglich zu machen. Aber Ihre Vorfahren waren Vorreiter einer westlichen Zivilisation, der wir Deutsche uns als Nachzügler endlich auch angeschlossen haben. Sie waren uns ein Jahrhundert voraus. Sie, die Armenier in Deutschland und anderswo, sind keine Bittsteller, Sie können mit Recht von uns verlangen, daß wir eine historische Schuld begleichen und Ihnen helfen.

Wir leben in einer Welt der Symbole, die manchmal noch mehr bewirken können als Worte. Ein solches Symbol ist das Holocaust-Mahnmal mitten in Berlin und in der Nähe des Reichstagsgebäudes. Auch Ihnen, den Armenier gebührt ein solches Symbol. Drei, fünf oder sieben Kreuzsteine nicht irgendwo in der Provinz, sondern im Herzen von Berlin könnten ein solches Monument sein. Drei, fünf oder sieben Khatchkars hätten auch eine gute Proportion zum großen Mahnmal, um vielen Politikern die Angst zu nehmen, wir wollten unsere Verantwortung für den Holocaust mindern. Und diese Steine kosten, was in Zeiten enger Kassen wichtig ist, fast nichts.

Drei, fünf oder sieben dieser starken armenischen Symbole, die gleichzeitig für den Tod und das wiedererwachende Leben stehen, auf dem Gelände direkt vor dem Bundestag und in Sichtweite zum Holocaustdenkmal, das wäre ein weithin sichtbares Zeichen.

Unser Parlament wird auf absehbare Zeit keine neue Resolution verabschieden, um das Wort „Genozid“ einzubauen, selbst wenn es Barak Obama heute ausspricht. Aber viele deutsche Abgeordnete könnten es tun, und die Khatchkars vor ihrem Haus würden sie an ihr Versäumnis erinnern. Einem solchen symbolträchtigen Zeichen kann sich der Bundestag nicht verschließen, wenn er seine eigene Resolution ernst nimmt. Es wäre eine in Stein gehauene Bitte um Versöhnung mit einem geschundenen und fast verschwundenen Volk, dem wir die Hilfe versagt haben. Ich hoffe, daß sich mein Land zu dieser Geste bereit findet, zu einer Geste, die tiefe Wunden ein wenig besser verheilen ließe.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.

(Rede auf der Gedenkfeier in der Paulskirche am 24. April 2009)