Die ersten 28 Toten des Weltkriegs

Jörg Berlin

Wenn Anfang August an den Beginn des 1. Weltkriegs erinnert wird, der dann 100 Jahre zurückliegt, sollte der ersten 28 Toten besonders gedacht werden. Es waren Deutsche, die vor dem großen Massenmorden bereits in den ersten Augusttagen innerhalb des Reiches von eigenen Landsleuten abgeknallt wurden. Sie fielen der »Spionitis« zum Opfer, einer von staatlichen Stellen im Zusammenwirken mit der Sensationspresse geschürten Massenhysterie.

Der Bevölkerung wurde suggeriert, in Deutschland trieben ganze Heerscharen von russischen und französischen Agenten ihr Wesen. Die ihnen angedichteten Untaten begannen mit Goldtransporten per Automobil von Frankreich über deutsches Gebiet nach Rußland. Der französische Erbfeind wollte angeblich mit seinem Geld das Zarenreich anstacheln und in die Lage versetzen, Krieg gegen Deutschland zu führen. Da Autos damals vor allem in ländlichen Gebieten selten waren, löste deren während der Mobilmachungsphase häufigerer Anblick vielerorts Alarm und Schüsse aus. Wer Haltesignale übersah oder nicht schnell genug befolgte, riskierte Gesundheit und Leben. Als Extrablätter (Falsch-)Meldungen über angezapfte Telefonleitungen bei militärischen Einrichtungen und Sprengstoffanschläge gegen Eisenbahntunnel verbreiteten, schlug die Aufgeregtheit in Neigungen zur Lynchjustiz um. Reisende, in denen Ausländer vermutet wurden, konnten sich glücklich schätzen, wenn sie in Bahnhöfen nur festgenommen wurden und nicht weiter zu Schaden kamen. Wer irgendwie fremdländisch aussah, lief auch in Großstädten Gefahr, auf der Straße zusammengeschlagen zu werden. Selbst eine deutsche Offiziersuniform bot dem Träger keinen Schutz, wenn er nur laut genug verdächtigt wurde. Elegant gekleidete Damen, an denen aufgestachelte Spießbürger Pariser Mode zu entdecken meinten, mußten um Polizeischutz nachsuchen, wenn der Mob sein Mütchen kühlen wollte.

Am 3. August wurde »amtlich gemeldet«, verkleidete französische Offiziere seien in Deutschland bei dem Versuch festgenommen worden, Brunnen mit Cholera-Bakterien zu infizieren. Mit ihnen sei kurzer Prozeß gemacht worden, man habe sie standrechtlich erschossen. Die deutschen Vorgänger eines US-Präsidenten, der im Jahr 2003 mit Lügengeschichten über chemische und bakteriologische Massenvernichtungswaffen versuchte, einen Krieg zu rechtfertigen und die Bevölkerung hinters Licht zu führen, wurden zu ihren Lebzeiten weder überführt noch bestraft.

Von ihnen könnten die in der Gegenwart mit Massenbeeinflussung befaßten Institutionen noch manches lernen. Denn während die Bevölkerung Anfang August 1914 durch Nachrichten wie die erwähnten in Angst, Schrecken und Wut versetzt wurde, lief bereits die nächste Lügenkampagne und brachte den furor teutonicus erst richtig zum Brodeln. Nun verkündeten Schlagzeilen und Zeitungsverkäufer, im Osten hätten Kosaken-Patrouillen und im Westen französische Infanteristen die deutsche Grenze überschritten und das Feuer eröffnet. Außerdem brachten die Zeitungen Nachrichten über bombenwerfende französische Flugzeuge und Luftschiffe in Baden und am Niederrhein. Die Nachrichten wirkten glaubwürdig, da oftmals Zeit und Ort der angeblichen Angriffe genannt wurden. Fünfundzwanzig Jahre später, bei dem inszenierten Angriff auf den Sender Gleiwitz, gingen die Nazis noch einen Schritt weiter. Der Öffentlichkeit wurden als Beleg für den Überfall vorher in polnische Uniformen gesteckte und nachträglich mit Schußverletzungen versehene Leichen präsentiert.

Das Kaiserreich hatte noch kein Propagandaministerium. Trotzdem gelang 1914 der Betrug ganz nach Wunsch. Ein großer Teil der Bevölkerung glaubte, Deutschland sei angegriffen worden, und war gleich bereit, den Aggressoren eine derbe Lektion zu erteilen. Zweifler waren zunächst so verunsichert, daß sie noch nicht zu sagen wagten, der Feind stehe im eigenen Land.

Wenn gegenwärtig wieder unverfroren verkündet wird, das Militär sei ein geeignetes Instrument, um Rohstoffquellen und Absatzmärkte zu sichern, ist das noch keine Aggression. Doch wir werden achtgeben müssen, mit welchem Dreh und welchen Bildern die Deutschen im Fall der Fälle wieder dazu gebracht werden, selbst nach dem Einsatzbefehl zu rufen.

(Aktualisierte Fassung des zuerst 2004 in der Zeitschrift Ossietzky erschienen Artikels)